Im Sommer 2015 (meine ich) bin ich mit zwei Freunden und zwei Zelten auf dem Rücken für einen guten Monat durch Deutschland gewandert. Abends im Zelt habe ich Tagebuch geschrieben. Hier sind die Aufzeichnungen: 

Deutschland, diese ewig lange Schublade, liegt vor uns. Wir machen uns auf, sie gründlich zu durchleuchten. Mainz – Hamburg, ein Monat, auf unseren Rücken linkisch gepackte Rucksäcke, auf den Schädeln Strohhüte. Was man halt so macht, wenn man sich selbst finden will. „Du läufst weg“, sagte mir meine Mutter vor meinen ersten Schritten. „Ich laufe auf etwas zu“, entgegne ich. Richtung Utopia, dahin, wo ich mein Pflichtgefühl über Bord werfen kann. Ich will weder Regeln noch Zäune. Natürlich werde ich nie –

Erster Abend in Wiesbaden, nach vielen Stunden ZuFußArbeit. Wir schleppen uns über eine Kirmes, alles blinkt, klirrt und kreischt, wir sollen einkaufen, fressen, rülpsen – ich fühle mich wie brennende Zuckerwatte. Irgendwo hier soll der Park sein, wo wir unsere Zelte aufschlagen können. Aber die Menschen haben das Grün in Beschlag genommen, neben mir würgt ein Familienvater, Lennart stolpert gegen gigantische Rentnerbrüste und wird zurückgefedert, Roßwurstgestank. Unsere Beine senden bitteren Protest. Ein Tröpfchen fällt, ein Tropfen, Tropfen-Massenkarambolage, es regnet, viel und mir ist nach Mitweinen. Hallo, Vaterland. Von der Kirmes in die Traufe. Uterus, Abitur, Wanderung. Das Land der Amokläufe, Absperrungen, Antifa. Ich bin in Rödermark aufgewachsen, vor Frankfurt, 20.000 Einwohner. Drei Jahre Berlin, dann wieder Frankfurt. Davor laufe ich weg, stimmt schon. Das Blinken erlischt allmählich.

Die Nacht verbringen wir unter dem Nest der Störche, die uns aus sicherer Position – einem zugekackten Strommast – beobachten und argwöhnisch mit den Schnäbeln klappern. Die Mägen mit Couscous gefüllt, im Hintergrund Feuerwerk und das Gröhlen von Besoffenen. Wir fassen uns morgens an den Händen und laufen, weiter, Hauptsache weg, WEG, hoch, den Rhein hoch. Wie beschreibt man das Gefühl einer Blase am Fuß? Wie beschreibt man eigentlich irgendetwas? Ich bin auf Motivjagd, ständig, immer, jedes Land und jeder Ozean der Welt hat sie zu bieten. Notfalls wird Google angeschmissen.

Wir passieren Raststätten, halb geleerte Weizengläser und Zäune, immer wieder Zäune. Das Boot ist voll. Mit Zäunen. In der zweiten Nacht tuckern stattliche Tanker vorbei. Wir sind in ein Naturschutzgebiet am Rhein eingestiegen. Man liegt auf verqueren Baumstämmen und die Luft, höflich wie sie ist, lässt Pollen umhertanzen. Die Zelte stehen fest im Sand und wir klatschen hin und wieder auf unsere Schenkel, um die Mücken zu töten. Über uns ein stolzer Sternenhimmel. Geiler Scheiß. Die Metallriesen auf dem Wasser lagern Baumstämme auf ihrem Rücken, fein aufgeschichtet. Auf irgendeiner A-Sonstwas kutschiert ein Laster Multi-Liter von Milch, das Stiefmütterchen muss ihre Einkäufe alleine die Treppen hochwuchten und ein Computer hat Schluckauf. Alles ist in Bewegung und so wir.

In Rüdesheim trampen wir das erste Mal. Glaubt man den Geschichten, die der Volksmund und seine Mundesmünder verbreiten, sollte man beim Trampen Ritterrüstung und einen Gürtel aus eingeschalteten Elektroschockern tragen. Der Feind wartet überall – und er will dich mitnehmen. Ich bin immer wieder neu erstaunt, dass das öffentliche Straßenbild in Deutschland nicht von zahllosen Schlägereien dominiert wird. Stattdessen: Alkoholiker, verschränkte Arme, Sonnenbrillen und schimmlige McDonald’s-Filialen. Bestimmt nicht gemütlich. Aber kein Grund, die Dolchstoßlegende weiter und weiter durch die Jahrhunderte zu tragen. Raus mit dem Daumen! Wird schon keiner abschneiden…

Carlos wohnt in Bingen, stammt aus Duisburg und hat heute „seinen Sozialen“. Das wirkt zuerst anders. Er verlangt fünf Euro bis nach Koblenz, wir stehen schon eine Stunde und willigen ein. Dann gibt es Geschichten. Unser Fahrer ist ein Ehemaliger, DJ, Koks, dann Meth, über mehrere Jahre hinweg, zersetzter Magen und eine Beziehung, die nur überlebt, weil sie plötzlich zu dritt sind. Der Papa ist des Ballerns müde – jedes Tattoo auf seinem Körper soll an eine überwundene Sucht erinnern, jetzt ist er Müllmann. Wir legen eine seiner alten Compilations an und staunen über die Städtchen, die es sich nahe des Rheins in den Bergen gemütlich gemacht haben. Ich sehe nach draußen, durch die Muster des Janosch-Sonnenschutzes und bin heimlich stolz auf unseren Fahrer, den alten Nasenscheidewandmalocher. Am Koblenzer Hauptbahnhof schenkt er uns fünf Euro, eine Deutschlandkarte und eine unsichere Umarmung. Koblenz. Wie schön eine Stadt wird, wenn sie nahe am Wasser gebaut wurde. Städte sollten häufiger weinen. Manchmal wirken sie wie versteinert.

Ist man mit Freunden auf Wanderung, beginnt man ziemlich schnell, diesen Begriff in Frage zu stellen, geradezu zu untergraben. Jeder trägt Verletzungen durchs Land, der Rucksack ist nur Tarnung. Wenn ein paar Verletzte auf Reisen sind, kann es geschehen, dass nicht nur die neu aufkommenden Glücksgefühle, sondern auch die alten Wunden ihren Platz in der Geschichte wollen. Schreit euch öfter an. Und entschuldigt euch zwei Tage später zerknirscht bei einem Capuccino an irgendeinem Kiosk in Deutschland. Dafür wandert man. Das ganze Gras, das unter den Schritten geknickt wird, ist Beiwerk. Und fangt an, zu lauschen. Jeder Autoauspuff klingt anders.

In Köln treffen wir einen jungen Mann, den wir bislang nur aus dem Internet kennen. Wir brauchen einen Schlafplatz und bekommen ihn. Die Wohnung ist eine Bienenwabe, verschachtelte Treppen, alles voller Bücher, Bilder, kleinen Steinchen auf denen „Liebe“, „Herzlichkeit“ und „Geborgenheit“ steht. Überall Zitate, Hildegard von Bingen, Antoine de Saint-Exupéry und die vielen anderen, die Kluges von sich gegeben haben. Hier wohnt eine Familie, die Mutter seit langem geschieden und beste Freundin ihrer Kinder. Eine starke, zärtliche Frau. Abends trinken wir ein Bier mit ihr und erzählen von unseren Familien. „Ich dachte, das emotionale Hungern nach dem zweiten Weltkrieg wäre mit eurer Generation vorbei“, sagt Katrin und ist ernsthaft erstaunt. „Für euch muss ich ja so etwas wie ein Weltwunder sein.“ 

In den folgenden Tagen habe ich in einem Kölner Park einen Heulkrampf. Werfe das erste Mal in meinem Leben eine Bierflasche gegen Stein. Sie geht nicht kaputt, ich auch nicht. Köln, RTL-Stadt, soviel Konsum, soviel Blabla, doch geht man mit einem Lächeln hindurch, wird es erwidert. Wir verschwinden hier besser. Die Wupper ruft, sie mündet in Leverkusen in den Rhein und wir folgen ihrer Stimme. Die folgenden Tage sind Oberschenkelgebiet und ein wahrer Traum. Es geht bergauf, für alle. Während einer Wanderung schwitzt man seine Probleme aus. In der ersten Regennacht im Wald weine ich schon wieder und stürze fast einen Abhang hinab. Ist das immer noch Weglaufen?

Auf einer Brücke über die Wupper treffen wir Ralf. Freundin Alkoholikerin, seit 25 Jahren, 20 Jahre jünger als er. Ein leiser, traurig blickender Mann mit Dialekt. Er läuft eine Weile mit uns, ist still, erzählt trotzdem, von seiner Zeit im Chempark bei BAYER, der Arbeitsunfähigkeit, die Söhne, die ihn nicht mehr anrufen und nur ein paar Blöcke weiterwohnen. In Leichlingen, seiner Heimatstadt, laden wir ihn auf Couscous und Eis ein. Er freut sich sichtlich, gibt Witze zum Besten und vergießt beim Abschied Tränen. Morgen wieder Dialyse, viereinhalb Stunden. 

Wir erreichen Wuppertal nie. Trampen, nach Rheine, der Dortmund-Ems-Kanal und Emden folgen, es regnet in einem Fort. Wir schlafen unter einer Brücke, die Aussicht sind eine Taube, die im ausgekippten Cornichon-Gurkenwasser nach den Senfkörnern pickt und ein leuchtendes Firmengelände. Schmutz über Schmutz. Es scheint ein Gesetz zu geben, dass allen Bewohnern dieses Landes gebietet, das Land mit Plastik zu pflastern. Wir geben uns Mühe, zu rebellieren und tanzen barfuß im Regen. Kein Instagram-Filter fängt uns ein und das ist doch ein guter Anfang.

Zwischen Emden und Wilhelmshaven, wo wir einen Freund besuchen wollen, verläuft der Jade-Ems-Kanal. Nach vier Stunden wieder Halt unter einer Brücke, sie könnte mitten auf dem Neptun stehen und wir würden es nicht merken. Ein Sturm peitscht auf uns ein, wir verkriechen uns in unsere Zelte und lassen die Minuten ins Land gehen. Die Böen rütteln am Zelt, mein Schlafsack fühlt sich an wie ein Sarg. Ich sterbe einige Tode und denke mir, dass ich das noch nutzen kann, davon schreiben, davon erzählen, raus aus der Komfortzone, aber ich weiß gar nicht, was all das soll. Warum muss das Leben mich quälen? Und warum gibt es so gute Bücher darüber, die so dermaßen auf dem Rücken schmerzen?

Am nächsten Tag in den Bus nach Aurich, die grauste Maus des Nordens. Dann Wilhelmshaven, ein Gespräch mit einem „linken Anarchisten“, der uns erzählt, dass Türken scheiße sind. Wir verneinen, leisten Aufklärungsarbeit, nächtigen am Banter See, gut versteckt in einem winzigen Klatschmohnfeld. Morgens wieder weg, nach Bremen, Viertel, SAUFEN MAGGER SAUFEN, fliehen nur noch, bis wir in Hamburg landen, wo wir von einem Pärchen, das einen Bio-Laden gegründet hat, auf ihren Dachboden eingeladen werden. Wir schlagen uns trotzdem zwei Nächte um die Augen, kommen reumütig zurückgekrochen, werden rausgeschmissen, feiern, trinken und mir wird bewusst, wie stumpf Alkohol macht. Ein Kriesengespräch folgt am nächsten Morgen, was ist schon Freundschaft? Ich bin mir nicht mehr sicher. Vielleicht das: Mikis nimmt uns auf und beschert uns vier Tage des Glücks. Wir wandern durch die Stadt, kiffen und sprechen über Gott und die Welt. Scientology-Besuch am letzten Tag. Als ich in den Bus Richtung Heimat steige, wandern ein Monat Erfahrungen durch meinem Kopf. Ich stöpsele mich zu, drücke die Zufallsfunktion meines Ipods, dem Gerät mit den angebissenen Apfel als Logo.

Kannst als Prediger erzähln‘, dass Gott der Größte ist
Oder den Teufel anbeten und wirst Satanist
Das ist dir alles freigestellt – in dieser schrecklich schönen Welt

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