“Im Ausland werden wir Deutschen sogar für unseren Hang zu Sorgfältigkeit und Struktur beneidet. Struktur ist nicht rigide. Sie muss zumindest nicht rigide sein, sondern kann uns eine innere Ordnung geben. Das finde ich super, das hat man zum Beispiel auch beim Yoga-Weg. Da geht nichts durcheinander. Erst macht man dieses, dann jenes. Weil es sinnvoll ist. Diese Tendenz zur Ordnung wird auch mit größter Bewunderung gesehen.”


Anna Trökes

Studium Germanistik, Geschichte, Philosophie, unterrichtet Yoga seit 1974, 1977-2011 in eigener Schule in Berlin, Heilpraktikerin und Rückenschulleiterin, Dozentin, Autorin
https://prana-yogaschule.de/


Für meine Interviewreihe „Mach’s weghabe ich rund 50 Interviews mit verschiedensten Perspektiven auf das Thema Gesundheit geführt. Schließlich wussten schon unsere Großeltern: Das Wichtigste im Leben ist die Gesundheit. Aber was ist das überhaupt? Lässt sich Krankheit einfach „wegmachen“? Und wieso kümmern sich Menschen umeinander?


Laurens Dillmann: Wieso bist du deiner Berufung gefolgt?

Anna Trökes: Ich bin meiner Berufung gefolgt, nachdem ich gemerkt habe, dass sie meine Berufung ist. Ich habe mich ganz früh in den Yoga vertieft, weil ich gemerkt habe, dass er eine sehr gute Therapie ist. Bei mir nach einer Wirbelsäulenverletzung tatsächlich körperlich: Der Klassiker, Yoga gegen Rückenschmerzen. Aber viel wichtiger: Sicher als ein Mittel, um zu wissen, was bewirkt Schmerz und was verstärkt und lindert ihn. Daraus erwachsen Selbstkenntnis, Selbstwirksamkeit, Selbstkompetenz. Das hat mir schon mal sehr gut gefallen.

Als ich noch an der Uni studierte habe ich angefangen Yoga zu unterrichten. Ich hatte keine Ahnung und Ausbildung, aber das was mir gut getan hat, konnte ich ja mit meinen Kommilitonen teilen. Ich habe Lehramt studiert und als ich meine Schulpraktika gemacht habe, habe ich gemerkt, ich unterrichte wirklich gerne. Nur nicht das, was ich studiert habe. Und schon gar nicht Menschen, die nicht freiwillig kommen. Das Lehren ist meine Berufung. Aber die Inhalte müssen das Wissenschaftliche und Theoretische mit der Praxis verbinden. Und da hat mir die Yoga-Lehre alles angeboten. Darin kann ich alles selbst leben, es umsetzen und unendlich vertiefen. Der perfekte Beruf für mich.

Wie sieht ein normaler Arbeitstag von dir aus?

Das kommt darauf an, ob ich Seminare gebe, oder ob ich hier sitze und schreibe. Meistens werde ich relativ früh wach, mache eine Yoga-Praxis, lese die Zeitung…wenn ich hier bin, kommt dann eine Gassi-Runde, ein Aqua-Fit oder Schwimmprogramm. Dann gehe ich an meinen Schreibtisch und bin mehrere Stunden – bis zum nächsten Gassi-Gang – denkend-schreibend-forschend unterwegs. Wenn ich unterrichte gehe ich von morgens bis abends in den Unterricht. Mit Vorbereitung und Nachbereitung.

Beim Googlen über dich habe ich den Satz gefunden: „Anna Trökes – Ein Leben in Meditation.“ Stimmt das so?

Diese Überschrift stammt nicht von mir. Ich versuche zumindest in vielem was ich tue, einen meditativen Aspekt zu entdecken. Was für mich wichtig ist, weil ich ein sehr hitziges Naturell habe. Wenn ich das nicht einsammeln würde wäre ich sehr aufgeregt unterwegs. Diese Beruhigung und Stabilisierung des Geistes, Mittel zu finden, um schnell wieder zu sich zu kommen, sich innerlich auszurichten, den Kompass aufzuspüren und ihm zu folgen, war wahrscheinlich für meine Gesunderhaltung ganz wichtig. Ich hätte mir sicher in meinem Leben viel mehr Leid erschaffen, wenn mir der Yoga nicht so viele Mittel angeboten hätte, damit umzugehen. Wenn man zwischendrin auch mal rumhasten, schlecht drauf sein, müde und erschöpft sein darf, wenn man das auch noch als Meditation zurechnet, würde ich sagen: Ja. Das ist etwas, was mich sehr grundsätzlich interessiert. Mittlerweile mehr als die Asana-Arbeit.

Was glaubst du, warum schrecken manche Menschen vor Wörtern wie Meditation, Esoterik oder Yoga fast reflexhaft zurück?

Aus gutem Grund. Das was schreckt ist die Macht. Ich merke das in Yoga-Kreisen, bei meinen Mit-Yoginis. Die Vorstellung, dass sie einer Lehrperson folgen sollen, ist für sie ganz schwierig, weil sie immer Sorge haben, sie könnten ausgenutzt oder gar ausgebeutet und missbraucht werden. Vor allem, wenn es eine männliche Person ist. Weil es ja auch tatsächlich geschieht. Mit den weiblichen Lehrpersonen verhält es sich anders, da passiert es so gut wie nie. Leider gibt es diese – verzeih – dummen männlichen Lehrer, die sich nicht zurückhalten können, wenn vor ihnen die jungen Frauen sitzen und sie anhimmeln. Wo soll das denn hinführen? 

Aber jedes Schüler-Lehrer-Verhältnis ist nunmal hierarchisch. Ein Schüler ermächtigt ja auch seinen Lehrer, ihn zu lehren. Wenn jemand zu mir in den Unterricht kommt ermächtigt dieser Mensch mich, dass ich ihm etwas sage. Und sei es „Leg dich auf den Rücken. Streck die Beine aus. Streck sie bitte wirklich aus, das ist für die nächste Übung wichtig.“ Und für mich ist immer wieder faszinierend, dass die Menschen dann wirklich tun, was ich sage. Ich erfahre schon, dass ich Macht habe. Über die Menschen, die mit mir im Raum sind. Wenn man sich nicht als Werkzeug zur Vermittlung der Yogalehre betrachtet, ist man sehr schnell verführt zu denken, man hat das Sagen. 

Dazu kommt noch, dass ich unterwegs bin mit einem Wissen, über das die meisten anderen nichts wissen können. Ich kann denen also viel erzählen. Und tatsächlich, Yoga, Meditation und Esoterik operieren ja nicht unwesentlich mit Heilversprechen. Da kann man den Leuten sagen: „Ich weiß, du wirst heil, aber du musst es so machen, wie ich es mir vorstelle.“ So wird die Stufe im hierarchischen Verhältnis noch viel größer, die Augenhöhe geht noch mehr verloren. Das erlebt man in allen Kulturen. Nicht nur hier im Westen, in Indien ist es teilweise noch viel krasser. Offensichtlich sind die Menschen vor dem Ausnutzen und ausgenutzt werden nicht gefeit und dadurch kommt es in solche Schieflagen. Darüber muss man sich als Lehrperson einfach sehr klar werden. Man braucht klare ethische Vorstellungen, was geht und was nicht geht.

Was ist ein Guru?

Die Übersetzung von Guru ist ein Mensch, der dorthin, wo es noch dunkel ist, Licht bringt. Licht steht im Yoga immer symbolisch für Vidya, das Wissen. Somit ist Guru eine Lehrperson. Lehrer lehren andere Menschen etwas, was sie schon wissen und die anderen noch nicht wissen. Sie geben das Licht der Erkenntnis weiter. So verstehe ich Guru. Und Lehrer sind Vermittler. Zwischen dem Wissen und demjenigen, der das Wissen empfängt. In diesem Sinne sind sie Werkzeuge. Das Wissen gehört niemandem. Sie haben das Talent oder die Fähigkeit, das Wissen vermitteln zu können. Wenn sie das sehr gut können, vielleicht eine charismatische Person und auch noch nette Menschen sind, sind sie unter Umständen auch das, was man heute so Guru nennt. Wobei ehrlich gesagt, die meisten die heute als Gurus bezeichnet werden, sind Menschen, mit denen ich meinen Tag eher nicht verbringen möchte. Der Titel Guru trägt in sich eine große Falle, nämlich dass das Ego meint, es sei gemeint.

Im klassischen Yoga ist die Person, die das Wissen vermittelt, nie wichtig. Das sieht man schon daran, dass die Autoren der Quelltexte oft mythische Personen sind und nicht Herr oder Frau XY. Wir wissen in der Regel nicht, wer das geschrieben hat. Das Autorenkollektiv des Yoga-Sutra war auf jeden Fall ein ganz toller Guru-Club. Genauso wie die Autorengemeinschaften der Bhagavad Gita oder der Upinashaden. Absolut genial. Aber auch wenn da Menschen namentlich genannt werden, ist dieser Mensch mit seinem ganzen Wissen davon abhängig, dass er in Kommunikation mit anderen Menschen treten kann. Dass die anderen Menschen, denen er das kommuniziert, es auch verstehen. Sonst nützt das ganze Wissen nichts.

Was ist der Guru in dir?

Die Lehrerin. Dieses Rad, wo auf der einen Seite das Wissen reinläuft – dann wird es runtergebrochen – und auf der anderen Seite kommt es bei den Menschen wieder heraus. Bei denen, die damit etwas anfangen wollen.

Was sind deine Werte?

Meine Werte gründen sehr stark auf Verständnis. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn ich die Möglichkeit hätte, jeden Mensch nur lange genug kennenzulernen, finde ich etwas, das dieser Mensch in sich trägt, das wertvoll und liebenswert ist. Wenn ich genug Zeit in einem Ruhe-Retreat mit Donald Trump hätte, würde ich das wahrscheinlich auch bei ihm finden. Einfach weil ich es sehen will. Das ist mir wichtig, weil ich der festen Überzeugung bin, dass Ablehnung und Hass nur Widerstände hervorbringt. Auf jeden Fall nichts Gutes. Jemand, auf den so etwas immer projiziert wird, hat schlussendlich gar keine Chance mehr, sich zu öffnen und zu ändern.

Auch ein Wert von mir: Ich liebe Wertschätzung. Ich habe festgestellt, dass mir Wertschätzung, Anerkennung, Loben, Dankbarkeit selbst unglaublich gut tut. Gerade meinen Teilnehmenden und Auszubildenden gebe ich das so explizit, dass mein Mann manchmal sagt, dass ich übertreibe! Aber ich fühle das dann so und für mich ist es ein hoher Wert, das auch so auszudrücken. Mein Wertekatalog ist im Laufe des Lebens sehr gewachsen. Weil ich Menschen in meinem kollegialen Umfeld erlebt habe, mit denen ich Werte teile und darüber kommuniziere. Das ist wohl etwas Besonderes an diesem Beruf: Man trifft oft auf Menschen, deren Werte man teilt, wodurch man sich gegenseitig bestärken kann. Wenn man mit niemandem über seine Werte reden kann, hat man seine Werte zwar, aber sie liegen bloß im Schrank wie im Sommer die Wintersachen.

Was für Qualitäten braucht man, wenn man mit Menschen arbeitet?

Man sollte Menschen mögen. Ihnen zugewandt sein. Gerne fürsorglich sein. Einfühlsam. Das ist schön. Vor allem aber das Interesse an Menschen. Sehen, dass sie alle Potentiale haben. Dass sie alle in sich die Fähigkeit tragen, sich so zu entwickeln, dass sie sich und anderen gut tun. Wir haben ja plastische Gehirne. Alles ist möglich.

Wie verändert sich unsere Betrachtung von Gesundheit & Krankheit zur Zeit?

Es gibt immer mehr Pioniere und Hoffnungsträger. Für mich ist die Klinik Essen-Mitte da federführend. Rund um Gustav Dobos, aus dessen Stall sind ganz viele hervorgegangen: Andreas Michalsen, Holger Kramer, Tobias Esch, Anna Paul, um nur einige zu nennen. Was diesen Menschen mit der sogenannten Mind-Body-Medizin gelungen ist, ist, dass sie ein ganz neues Verständnis von Psychosomatik geschaffen haben. Und dass Psychosomatik inzwischen wirklich ernst genommen wird.

Ich habe ein Buch über Stress geschrieben: Anti-Stress-Yoga. Und es gibt von Dobos und seinen Ärzten ein kleines Buch, das geht gewissermaßen vom Universum bis in die Zelle. Die ganze Bandbreite. Es heißt „Mensch im Stress.“ Eine der wesentlichen Aussagen, die sich mir sofort eingebrannt hat, ist, dass wir heute so gut wie keine äußeren Stressoren mehr haben. Aber wir sind alle sehr eingeübt darin, uns selbst zu stressen. Wir leben in einer Leistungs- und Konsumgesellschaft. Mehr muss man eigentlich nicht sagen. Alleine das stresst schon. In einer industriellen Leistungs- und Konsumgesellschaft, das setzt nochmal eins drauf. 

Man sagt Kindern: „Mach erstmal was aus dir.“ oder „Wenn du so weiter machst, wird nie etwas aus dir werden.“ Und ich finde diese Botschaften so stresserzeugend. Da hören schon ganz kleine Kinder, dass sie an sich gar nichts sind. Dass sie sich immer bemühen müssen. Aber das perpetuiert sich. Die Menschen internalisieren das. Und es sitzt ihnen gewissermaßen ganz tief in den Knochen. Sie denken aber, der Druck kommt aus ihrem Denken. Sie werden nämlich immer wieder erleben, dass sie die Dinge nicht schaffen, wie sie es wollen, oder das Großereignisse wie eine Pandemie dazwischen grätschen. Aber interessanterweise ist die Welt bislang nicht untergegangen. Es gilt also unterscheiden zu lernen: Womit mache ich mir selbst diesen Stress? Und was sind wirklich äußere Stressoren? Das wäre schon mal eine riesige Hilfe. Ein Lehrerkollege von mir, Eberhardt Bärr sagt unter Bezugnahme auf den Vedanta immer so schön: „Es gibt da draußen keine Probleme.“ Und dann macht er so eine Geste, dass er den Zeigefinger, mit dem er sonst auf die Probleme da draußen zeigt, zu sich selbst umdreht. Er sagt: Solange du es nicht zu deinem Problem machst, kannst du damit nichts machen. Du kannst die Probleme der Welt nicht lösen. Das sind so Denkansätze, die wie ich finde, ganz viel bewirken können. Und Yoga bietet dazu Konzepte und Methoden.

Welche Rolle spielt der Körper im Yoga?

Man weiß, wenn ich im Stress bin, findet dieser Stress in aller Regel im Kopf statt. Ich mache mir Sorgen oder bin mit meinen To-Do-Listen unterwegs. Das passiert ja nicht im großen Zeh, sondern da oben im Kopf. In verschiedenen Zentren des Gehirns in Kooperation mit dem Nervensystem. Je stärker das Stressempfinden wird, desto mehr geht die Empfindungsfähigkeit für den eigenen Körper zurück. Also: Spürend kann ich nicht denken. Und denkend, kann ich mich nicht spüren. Punkt. 

Aufmerksamkeit – also Bewusstheit – ist eine begrenzte Ressource. Wenn ich denke, brauche ich den gesamten Speicherplatz des Bewusstseins für die Gedanken. Wenn ich in diesen Gedanken bin, kann ich zum Beispiel nicht auch noch meine Körperhaltung empfinden. Ich kriege es gar nicht mit. Und wenn ich mich wirklich auf das Spüren einlasse, ist eben mit dem Spüren der Speicherplatz des Bewusstseins damit total besetzt. Dann kehrt die Wahrnehmung des Körpers zurück.

Denn die Körperwahrnehmung wird im Dauerstress allmählich ausgeblendet. Deswegen hat man beim MBSR (Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion) dem Bodyscan so einen großen Stellenwert eingeräumt. Die Leute kriegen das die ganzen acht Wochen während ihrer Therapie jeden Tag angeboten. Einen Bodyscan nach dem nächsten. Damit sie sich wenigstens vorstellen: Das hier ist mein Bein. Und damit wieder die “Kommunikationsleitungen” freilegen. Wenn tatsächlich Menschen richtig im Stress sind, spüren sie teilweise ihre Beine, ihre Füße nicht mehr. Sie sind nicht nur verkopft, sie sind nur noch Kopf. Da kann Yoga sehr hilfreich sein.


Pranayama

Was denkst du über die „Mach mein Symptom weg“-Mentalität?

Man kann Pillen geben, so viel wie man will. Aber wenn du nicht ganz tief drinnen gesund werden willst…Zumindest nach außen hin sagen ja alle, sie wollen gesund werden. Aber die Frage ist: Warum denn eigentlich? Wofür willst du gesund werden?

Ich bin ja auch Rückenschulleiterin. Als ich diese Ausbildung vor 30 Jahren gemacht habe, hat man den Leuten Biomechanik beigebracht. Also: Wie sitzen, stehen, gehen, wie den Staubsauger bewegen, wie die Wasserkiste heben und so weiter. Alles schön und gut. Man hat dann schon mittelfristig gemerkt, das hilft nicht, die Leute haben alles eintrainiert, aber werden ihre Schmerzen nicht los. Einer der Begründer der Rückenschule, Wolfgang Scheiber, ist dann auf die geniale Idee gekommen, zu sagen, da fehlt der Kopf. Da fehlt die Motivation. Was kann ich denn wieder tun, wenn mir der Rücken nicht mehr weh tut? Worauf freue ich mich? Das dopaminerge System, das Belohnungssystem, war nicht eingebunden. Dann hat sich dieser Mensch dran gemacht und einen Kurs entworfen, in dem das explizit eine Rolle spielt. Warum tue ich das? Welche Potentiale gewinne ich zurück? Auf welche Ressourcen kann ich mich beziehen? Er hat es dann “Rückenbraining” genannt. Also er hat ganz bewusst die Psyche und den Geist mit eingebunden. Das war der Moment, wo Rückenschule nachhaltig wurde. 

Ich habe keine gute Erinnerungen an meine Schulzeit. Ich hatte das Gefühl, ich kann mein Potential nicht entfalten. Und ein bisschen ähnlich sehe ich es mit dem Gesundheitssystem. Dass dort Gesundheit gar nicht richtig gefördert wird. Was denkst du darüber?

Gerald Hüther vorneweg versucht schon lange, am Schulsystem Änderungen vorzunehmen. Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen, die bewegtes Yoga mit in die Schule nehmen möchten. Der jetzige Zustand ist suboptimal, das würde ich auf jeden Fall auch so sehen. Aber ich bin ja schon viel in der Welt unterwegs gewesen und habe auch das indische Schulsystem gesehen. Da wird stramm gestanden und selbst, wenn sie morgens ihre Yoga-Übungen machen, ist das eigentlich so ein paramilitärischer Drill. Das ist dann auch nicht prickelnd.

Zur Entfaltung von Chancen denke ich: Wir haben es hier unglaublich gut. Ich habe über die Jahrzehnte jede Menge Eltern und ihre Kinder kennengelernt. Ich habe so oft gesehen, dass hier die Menschen eine Chance haben, zu probieren, zu experimentieren, zu verwerfen, wieder neu zu beginnen. In einer Gesellschaft wie Indien könntest du das alles knicken. Da haben alle so feste Vorstellungen wie du dein Leben führen sollst. In manchen arabischen Ländern ist es sicher ganz ähnlich. Wir haben hier so viele Spielräume. Da muss ich an mich selbst denken. Ich habe es für mich durchgesetzt, als junge Frau Yoga-Lehrende zu werden. Obwohl es überhaupt nicht den Vorstellungen meiner Eltern entsprach. Null komma gar nicht. Aber ich habe diese Möglichkeit gehabt und bin meinen Weg gegangen.

Lässt sich das System denn ändern, wenn wir es kritisieren?

Nein, und es gibt dir vor allem kein gutes Gefühl. Mit meinem Buch über Depressionen habe ich mich ganz viel mit positiver Psychologie und humanistischer Psychologie beschäftigt. Die führenden Forscher in diesen Disziplinen sagen alle: das Gute muss bestärkt werden. Du musst es wirklich suchen, du musst es benennen, erkennen, bestärken. Damit es in dir arbeitet. Und das tut es dann auch. Unsere Gehirne sind leider so ausgerichtet, dass sie viel eher das Negative sehen. Und dann auch anziehen und festhalten und sich gerne damit beschäftigen. Aber wir haben einerseits aus unseren Fehlern gelernt und auch aus all dem, was gelungen ist. Und es ist ganz viel gelungen. Alleine in diesem Land leben zu dürfen! Das sehe ich so, nachdem ich die Hälfte meines Lebens damit komplett uneins war. Darüber bin ich äußerst dankbar. Auch in dieser Gesellschaftform zu leben. Sogar als Leistungs- und Konsumgesellschaft hat sie so viel Durchlässigkeit. Jeder darf alles in Frage stellen. Und das sehe ich nicht überall so.

Warum bist du so viel gereist?

Ich liebe es, meine Nase in andere, unvertraute Kontexte zu stecken. Und vor allem auch ganz andere Menschen und ihre Lebensentwürfe kennenzulernen. Das interessiert mich wirklich.

Und du hast nicht das Gefühl, dass Deutschland sozusagen an seiner eigenen Struktur erstickt? 

Im Ausland werden wir Deutschen sogar für unseren Hang zu Sorgfältigkeit und Struktur beneidet. Struktur ist nicht rigide. Sie muss zumindest nicht rigide sein, sondern kann uns eine innere Ordnung geben. Das finde ich super, das hat man zum Beispiel auch beim Yoga-Weg. Da geht nichts durcheinander. Erst macht man dieses, dann jenes. Weil es sinnvoll ist. Diese Tendenz zur Ordnung wird auch mit größter Bewunderung gesehen. Wenn ich mit meinen indischen Reiseleitern zusammenarbeite, merke ich immer ganz große Bewunderung, wenn sie sehen, wie ich einen Kurs vorbereitet habe. Das schüchtert sie gar nicht ein. Die denken eher: „Wow, die macht sich aber das Leben leicht. Und uns auch.“ Ich habe gelernt, diese Art aus dieser anderen Perspektive zu sehen. Nämlich aus der Bewunderung. Reisen bildet. 

Was bedeuten eine gesunde Tagesstruktur und ein gesunder Lebensstil für dich?

Das ist doch so sehr typ-abhängig. Ich sage meinen Teilnehmern nie, was sie machen sollen. Nie. Ich weiß ja gar nicht, ob das für sie stimmt. Ich kann nur sagen, was ich brauche. Für mich gilt eine Mischung aus Bewegung, Ruhephasen, kleinen Entspannungsoasen, für wichtige Sachen genug Zeit einplanen – und dazwischen hochgradig effektiv arbeiten. Wenn man die herausfordernden Aufgaben um die Pausen herum plant, ist das für mich ein gesunder Lebensstil.

Was passiert, wenn man den Leistungsgedanken mit in den Yoga nimmt?

Wenn du richtig gut meditieren willst (lacht)? Ich sage meinen Teilnehmern immer wieder: Es gibt auf der Yoga-Matte nichts zu erreichen. Wirklich nichts. Aber es gibt wahnsinnig viel zu erfahren. Wenn es das erste mal durch ihr Trommelfell durchgegangen ist und in ihr Gehirn geschafft hat, sind die Menschen immer sehr erleichtert. Und tatsächlich ist das ja auch so. Was willst du denn auf einer Yoga-Matte oder einem Meditationskissen erreichen?

Wenn du über Meditation der Welt entfliehen willst, nennt man das Spiritual Bypassing. Eigentlich wollen Yoga und Meditation dich fit machen, dass du mit der Welt besser klarkommst. Dass du mehr Freude an ihr hast und dich einbringst. Es gibt ein paar sehr unbedeutende Stränge in der Geschichte von Yoga und Meditation, die etwas mit Weltflucht zu tun haben. Aber interessanterweise haben die nicht Bestand gehabt. Das in der Welt sein, mit den Mitteln des Yoga, haben immer mehr Menschen wesentlich interessanter gefunden. Du bringst dich mit deinem eigenen Körper voll ein und kannst gleichzeitig mit deinem Geist Beobachter oder Seher bleiben. Dann kannst du dich nämlich entscheiden, wie weit du dich auf etwas einlässt oder eben nicht. Die einen, die der Welt völlig verhaftet sind, sind genauso unfrei wie diejenigen die sagen, ich will mit der Welt nichts zu tun haben.

Schwebt man dann zwischen der realen und einer geistigen Welt?

Nein. Nicht, wenn du die Füße auf dem Boden hast, wo sie hingehören. Soweit wie möglich durchlässig im Herzen. Und nach oben so klar und stabil wie möglich. Klarheit kommt ja nur aus Stabilität. Schwebezustände sind kein Grund für Klarheit. Klarheit kann darin nicht wachsen. Weißt du, wenn ein Gehirn in die Ruhe kommt, entwickelt es spezielle Wellen, die bewirken, dass es möglichst viele Bereiche von sich in das Tun mit einschaltet. Es entsteht Kohärenz. Daraus entsteht eine Klarheit. Das ist eine Sichtweise, die einen Sachverhalt nicht so fokussiert, sondern ihn eher umfasst. Dafür brauchst du aber Erdung und Ruhe. 

Das ist das Schöne an Tantra und dem in dessen Konzepten gründenden   Hatha-Yoga. Der ist entstanden als ein Yoga für Haushälter und Familienmenschen. Für Leute, die auch ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Die nicht irgendwo in der Höhle sitzen könnten und jeden Tag kommt mal jemand mit der Schale Reis vorbei. Sie stehen selbst auf dem Feld. Und sowas brauchen wir. Die Anpacker, die Macher, die Umsetzer. Dafür brauchst du den Erdkontakt. Es ist immer die Realität, von der aus du losgehst, wenn du mit Problemen umgehen musst. Zuerst guckst du dir an: Was ist da? Und wo bin ich darin? Auf dem Boden der Tatsachen, wie man so schön sagt. Dort beginnend. Wo willst du denn sonst beginnen?

Was können wir Menschen aus dem Jahr 2020 und der Corona-Erfahrung lernen? 

Was die Menschen tun können, ist, dass sie vernünftig und vorsichtig sind. Dass sie Risiko kennen und meiden. Das finde ich ganz wichtig. Hygieneregeln haben schon bei anderen Epidemien einfach sehr gute Resultate gezeigt. Der andere Punkt ist, dass man Menschen befähigen sollte, mit ihren Ängsten umzugehen. Das hast du wahrscheinlich auch erlebt, am Anfang der Corona-Zeit, dass Menschen ganz panisch reagiert haben und zurückgesprungen sind, wenn du ihnen im Supermarkt zu nahe gekommen bist. Diese Angst ist nicht mehr so extrem, aber sie ist immer noch da. Angst um den Arbeitsplatz, wie soll es weitergehen, warum kehrt das Leben nicht endlich zur Normalität zurück?

Und Angst ist schwächend. Das erste, was das abkriegt, ist immer das Immunsystem. Das ist äußerst ungünstig, weil man sich mit Angst selber so viel Stress macht. Weil das Immunsystem mit als erstes auf Stress reagiert und am meisten darunter leidet. Aber man kann sich selbst fragen: Ist es denn förderlich, dass ich diese Angst habe und mit ihr lebe? Das könnte etwas bewirken. Das ist eine Balance. Die rigorose Vorsicht, um Risiken auszuschließen und zum Anderen: Es ist wie es ist. Ich weiß ja gar nicht, warum mir etwas passiert. Als ich mir damals die Wirbelsäule gebrochen habe, wusste ich nicht, wozu das gut ist. Im Laufe der Jahre hat sich herauskristallisiert, dass es für den Sinn meines Lebens wichtig war.

Aktuell wissen wir noch nicht, in welchem Maße diese Pandemie für uns wichtig ist und was wir daraus lernen werden. Was ich weiß ist, dass wir im Vorfeld ein paar gefährliche Infektionen einfach mal so durchgewunken und gar nicht richtig darauf geachtet haben, woher das kommt. Und dieser ökologische Impact, der ist ja gewaltig. Und solange der nicht bearbeitet ist…Da braucht es kein Umdenken, sondern einen wirklichen Paradigmenwechsel. Da möchte ich fast sagen, ich hoffe, dass dieses Virus weiterhin wie ein Schreckgespenst über der Gesellschaft schwebt. Wenn es nächstes Jahr nämlich alles vorbei sein sollte, kehren wir mit Sicherheit sofort wieder zur Tagesordnung zurück. Und der Schuss vor den Bug ist in null komma nichts wieder vergessen. Und dafür all das Leid? Und all die Toten?

Was wird uns helfen, diese Krise zu meistern?

Intrinsische Motivation. Das, was Menschen und Gemeinschaften gedeihen lässt, ist unter anderem auch Vertrauen. Das sagt Yoga seit Jahrtausenden. Vertrauen ist eine hohe Qualität, ein hoher Wert. Vertrauen in dich. Dass die Dinge, so wie sie sind, ziemlich gut sind. Und immer optimierbar, klar. Aber Vertrauen ist ein anderer Nährboden, in dem das Leben gut wachsen kann. Shraddha, sagt das Yoga-Sutra, ist ganz wichtig, damit die intrinsische Motivation überhaupt funktionieren kann. Sonst ist es letztlich immer nur eine Art Pflicht.

Foto-Credit: Anna Trökes, Felix Matthies, yoga-feelgood.de

Online: https://prana-yogaschule.de/

Interviews - Körperarbeit - Coaching

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