Es gibt kein Gegengift. Man muss da durch. Wenn der Schamane ein erfahrener, kraftvoller und liebevoller Mensch ist – und auch die Gemeinschaft um einen herum diese Qualitäten trägt – wird es möglich, da hindurchzugehen. Man kann den Mut finden, sich auch in so einer Situation nicht auf die Angst zu fokussieren. Sondern trotzdem ins Vertrauen zu gehen, mitten in der Angst. Ayahuasca ist also ein hervorragendes Lernprogramm, die Aufmerksamkeit auf das zu fokussieren, was in schwierigen Situationen hilfreich ist. Ein Training für den Geist.“ – „Es braucht eine Wertschätzung der persönlichen Zuwendung. Wenn wir eine Medizin haben, in der Menschen Wohlwollen erleben, wenn sie sich nach den medizinischen Maßnahmen wieder mehr verbunden fühlen, mit sich selbst, der Natur, miteinander, wenn sie deswegen wieder glücklicher und friedvoller leben können: Dann haben wir die richtige Medizin.


Johannes Latzel

Einige Semester Studium Philosophie in München, danach Studium der Medizin in Freiburg, seit 1992 homöopathisch ausgerichtete Allgemeinarzt-Praxis in Freiburg, Ausbildung Systemische Therapie, Fachgebundene Psychotherapie, Ausbildung zum MBSR-Lehrer (Mindful based stress Reduction-Stresswältigungskurse durch Achtsamkeit), Weiterbildung zum MBCT-Lehrer ( Mindful-based-cognitive Therapy – wissenschaftlich untersuchtes und bewährtes Achtsamkeitstraining zur Förderung der seelischen Gesundheit): https://www.tanzmitderstille.de/


Für meine Interviewreihe „Mach’s weghabe ich rund 50 Interviews mit verschiedensten Perspektiven auf das Thema Gesundheit geführt. Schließlich wussten schon unsere Großeltern: Das Wichtigste im Leben ist die Gesundheit. Aber was ist das überhaupt? Lässt sich Krankheit einfach „wegmachen“? Und wieso kümmern sich Menschen umeinander?


Laurens Dillmann: Wie verlief Ihr beruflicher Werdegang?

Johannes Latzel: Schon in meiner Jugend habe ich mich mit christlicher Spiritualität beschäftigt. Die interessanteste schien mir damals die der Jesuiten zu sein. So habe ich nach dem Abitur zunächst vier Jahre bei den Jesuiten studiert – christliche Spiritualität, Philosophie, Tiefenpsychologie, auch ein wenig Kunstgeschichte. Dann wurde mir aber klar, dass ich gerne in meinem Leben etwas machen wollte, das den Menschen hilft. Besonders denen, die leiden. So habe ich begonnen, Medizin zu studieren. Wobei mein Medizinstudium immer schon auf zwei Schienen verlief. Ich habe die Schulmedizin studiert und nebenbei die Homöopathie, weil mir das die interessanteste und für mich am meisten begeisternde Heilmethode war, die ich finden konnte.

Als mein Studium beendet war, bin ich direkt in die allgemeinärztliche Praxis gegangen, in der ich seit 30 Jahren hauptsächlich homöopathisch arbeite. Ich habe eine Zusatzausbildung absolviert in Fachgebundender Psychotherapie und arbeite jetzt auch als Psychotherapeut. Zudem habe ich eine Ausbildung gemacht als MBSR-lehrer (nach Jon Kabat-Zinn). Damit kann ich Menschen in Kursen helfen, ihren Stress zu bewältigen. Und seit etwa 25 Jahren gebe ich Seminare zum Thema Homöopathie, Stressbewältigung und Meditation.

Auf ihrer Homepage finde ich Begriffe wie Achtsamkeit, Dankbarkeit, Verbundenheit und Schamanismus. Warum?

Es hat sich im Laufe der Zeit entwickelt, dass mich ganz bestimmte Dinge besonders interessiert haben. Zum Beispiel die Achtsamkeit. Wenn Patienten die Übungen des MBSR-Trainings erlernen, brauchen sie dazu nur zwei Monate, und es gibt gravierende Veränderungen in ihrem Leben. Auch verbessert sich ihre Fähigkeit, sich selbst zu heilen. Diese Patienten kommen nachher viel weniger zu mir in die ärztliche Praxis, sie brauchen mich als Arzt nicht mehr oder seltener. Es freut mich, wenn sie in sich selbst das finden, was sie vorher nur außen gefunden haben. Dankbarkeit habe ich entdeckt als eine große Kraft, die man kultivieren kann. Man kann sie wie Achtsamkeit gleichsam trainieren und sich damit so beschäftigen, dass sie zu einer Lebenshaltung wird. Sie verändert  dann das Leben.

Verbundenheit ist für mich die wichtigste Medizin unserer Zeit. Wir leben in einer Zeit, in der Menschen immer mehr Getrenntheit spüren und darunter leiden. Zumal jetzt in der Corona-Krise. Die Ursache von allem Leid – so kommt es mir vor – ist das Getrenntsein: Von sich selbst, von der Natur, voneinander. Wenn wir Wege finden, uns wieder verbunden zu fühlen, ist das heilsam. Es ist auch konkret medizinisch wirksam. Wenn sich zum Beispiel Menschen regelmäßig in einem vertrauten Kreis treffen und sich austauschen können, reduziert das Angst und Depressivität und Krankheitshäufigkeit, stärkt das Immunsystem und erhöht im Falle schwerer Erkrankungen wie Krebs deutlich die Lebenserwartung.

Einer der interessantesten Wege, die mir begegnet sind, über die Homöopathie hinaus, ist der Schamanismus. Früher dachte ich: Das ist mehr etwas Romantisches. Die Leute machen sich völlig irreale Vorstellungen, dass irgendwelche indigenen Völker noch Wissen besäßen, das wir eines Tages vergessen hätten. Aber als ich dann nach Südamerika reiste, habe ich wirklich gestaunt, welche Macht diese Medizin aus dem Regenwald hat, welche heilende Kraft! Die schamanische Medizin unterscheidet sich von der Schulmedizin an einem bestimmten Punkt. In der Schulmedizin gibt es – nicht überall, teilweise ist die Schulmedizin ganz wunderbar – eine Tendenz, einfach nur Symptome zu bekämpfen. In der schamanischen Medizin wird der Mensch durch die Medizin herausgefordert, in seine Kraft zu kommen. Die Medizin verursacht in gewissem Sinne künstlich, für kurze Zeit, eine Krankheit. Manchmal sogar eine dramatische Krankheit. Und dann muss der Patient seine eigene Kraft entwickeln, um damit zurechtzukommen.Wenn das in einem sicheren Rahmen geschieht, mit einfühlsamer Begleitung, führt das dazu, dass der Mensch hinterher neu gestärkt und zuversichtlicher mit den Herausforderungen des Lebens umgehen kann.


Cocar und Speer der Yawanawa-Indianer

Warum sollte ich mich selbst einem Schmerz aussetzen, um meine Heilung anzustoßen?

Als Analogie: Wenn zum Beispiel ein Mann Angst vor Hunden hat, könnte man versucht sein, alle Hunde aus seinem Leben zu entfernen, oder sogar, alle Hunde umzubringen. Man kann sich leicht ausrechnen, dass das nur bis zu einem gewissen Grad gut gehen mag. Die Welt ist voller Hunde. Da müsste der Mensch sich schon permanent in seinem Zuhause einsperren. Ansonsten wird er eben immer mal wieder Hunde treffen. Diese Strategie kann also nicht die Lösung sein. So ist eben für viele Gesundheitsprobleme nicht die Lösung,  eine äußere Ursache zu postulieren und diese dann zu bekämpfen. Der andere Ansatz – wenn man in der Analogie bleibt – ist, dem Menschen zu helfen, mit dem umzugehen, wovor er Angst hat. Zum Beispiel zu lernen, sich mit einem kleinen, süßen, verschmusten Hund anzufreunden. Um dann irgendwann immer größeren, auch wilderen Hunden begegnen und allmählich die Angst verlieren zu können. Das ist der sanfte Weg, den wir auch in der Homöopathie versuchen.

Eine Arznei wie Ayahuasca ist natürlich heftiger. Wenn man das trinkt, öffnen sich nach 40 Minuten die Schleusen zum Unbewussten. Und dann steigt ganz viel Unterdrücktes auf. All das, von dem das Ich bisher dachte, dass es dem nicht begegnen darf und kann. Das zeigt sich körperlich, in dem es einem vielleicht übel wird, man brechen muss oder der Kreislauf kollabiert. Seelisch zeigt es sich, indem man beispielsweise enorme Angst bekommen kann. Sogar die Angst zu sterben.

Aber man kann es nicht rückgängig machen. Es gibt kein Gegengift. Man muss da durch. Wenn der Schamane ein erfahrener, kraftvoller und liebevoller Mensch ist – und auch die Gemeinschaft um einen herum diese Qualitäten trägt – wird es möglich, da hindurchzugehen. Man kann den Mut finden, sich auch in so einer Situation nicht auf die Angst zu fokussieren. Sondern trotzdem ins Vertrauen zu gehen, mitten in der Angst. Ayahuasca ist also ein hervorragendes Lernprogramm, die Aufmerksamkeit auf das zu fokussieren, was in schwierigen Situationen hilfreich ist. Ein Training für den Geist. Wenn man das öfter macht, lernt man, selbst in den schwierigsten Situationen auf das Licht, die Kraft und das Vertrauen zu schauen. Und dieses Training bewährt sich auch im Leben, im Alltag.

Warum hatten Sie den Impuls, sich um Menschen zu kümmern, die leiden?

Zunächst mal hatte ich selbst während meines Studium viele Schwierigkeiten. Ich war sehr unglücklich mit sehr vielem. Heute würde ich es eine Depression nennen, damals war mir das nicht bewusst. Ich habe nach etwas gesucht, dass meine Seele gesund machen würde. Mit dem ich das Gefühl hätte, es geht mir gut. Weil es mir meistens schlecht ging. So habe ich erst mal für mich selbst nach dem geforscht, was mir helfen würde. Aber es war schon immer so, dass ich ein Mensch war, zu dem viele gekommen sind, die unter körperlichen und seelischen Krankheiten gelitten haben. Diesen Wunsch hatte ich schon als Kind in mir. Wenn ich jemanden leiden sah, habe ich mir gewünscht, es gäbe etwas, was diesem Menschen helfen könnte.

Das Schöne war: Als ich etwa 20 Jahre alt war, begegnete ich Menschen, die sehr wirksam helfen konnten. Die in kurzer Zeit einen Menschen verstehen konnten und durch das Gespräch Veränderungen hervorrufen konnten. Das hat mich tief beeindruckt. Einen starken Eindruck hinterließ bei mir auch ein Erlebnis mit meinem Großvater. Ihm ging es  schlecht. Kein Arzt konnte ihm helfen. Er ging zu einem Heilpraktiker, der später mein Lehrer wurde. Dieser Heilpraktiker sagte ihm auf den Kopf zu: „Sie haben einen Lungentumor, auf der linken Lunge, unten. Und den müssen sie operieren lassen, sonst sterben sie. Aber wenn sie das machen, werden sie wieder gesund.“ Mein Großvater ging in die Universitätsklinik, um es nachzuprüfen. Sie sagten ihm: „Sie sind doch Lehrer. Wie können Sie denn einem Heilpraktiker glauben? Der kann das doch nicht wissen.“ Er wurde geröntgt und es war genau so. Mein Großvater wurde operiert und konnte weiterleben. Menschen mit solchen Fähigkeiten zu begegnen, hat mich sehr geprägt. Und so auch meinen Wunsch, selbst die Medizin der Homöopathie zu erlernen.

Wie ist der schulmedizinische Blick auf den Menschen und wie der „alternative“? Warum wird beides voneinander getrennt?

Ich glaube, ganz allmählich merkt man in der medizinischen Ausbildung wie wichtig es ist, einen ganzheitlichen Blick zu bekommen. Von manchen Studenten höre ich, dass es diese Bemühungen gibt. Uns wurde damals überwiegend ein analytisches Bewusstsein beigebracht. Wir haben ganz viel Schulung bekommen, Einzelheiten wahrzunehmen. Spezielle Einzelheiten, immer auf ein ganz bestimmtes Fachgebiet bezogen. Aber den Menschen insgesamt zu spüren – auch die eigenen Gefühle wahrzunehmen, die ein Patient in einem hervorruft und das wiederum als diagnostisches Mittel zu verwenden – das habe ich erst ganz allmählich später lernen können. Das wurde nicht im Studium vermittelt.

Das Ganzheitliche im ärztlichen Beruf bedeutet auch, über die Beziehung zu arbeiten. Nur wenn ich ein Stück weit mit dem Patienten eins werde, kann ich ihn wirklich verstehen. Das ist eine Kunst, die man lernen kann und die sehr viel Freude bereitet. Die einfach wohltuend für den Arzt selbst ist. Ich habe so wunderbare Patienten. Ich bin so glücklich über die Menschen, die zu mir kommen. Und über die Beziehung, die da entsteht. Erst aus diesem Verbundensein kann man dann gemeinsam herausfinden, was der Patient wirklich braucht. Wenn man das nach einer Schablone macht, wie es vielfach heutigen Ärzten beigebracht wird…Also leitliniengerecht – Ich habe ein Problem und standardmäßig muss ich es immer auf die gleiche Weise beantworten – dann bewirkt es ganz oft nicht das, was der Patient wirklich braucht. Er braucht etwas Individuelles und Einmaliges, das immer aus der Beziehung heraus gefunden werden muss. Und nicht aus einem Programm.

Ich arbeite jetzt seit 30 Jahren in der Medizin. Was erschreckend ist, ist dass der kommerzielle Aspekt immer stärker geworden ist. In der Regel wird man ja Arzt, um den Menschen zu helfen. Weil man am Helfen Freude hat. Aber in der Medizin hat der wirtschaftliche Aspekt Überhand genommen. Die Profitgier von großen Organisationen ist so riesig, dass sie immer mehr die Medizin zu beherrschen versuchen. Sodass dieses Wohlwollen immer größere Schwierigkeiten hat, sich zu entfalten, überhaupt Raum und Freiheit zu bekommen.

Wie kann man sich gegenüber dieser Kommerzialisierung als Einzelner verhalten?

Es erschüttert mich sehr tief. Ich fühle mich selbst bis zu einem gewissen Grad ohnmächtig und weiß keinen Ausweg. Was mir deutlich ist, dass in unserem gesamten Gesundheitssystem nicht mehr das Wohlwollen herrscht. Es sind andere Kräfte, die den Ton angeben. Was ich selbst in dieser Situation tun kann, ist, dass ich für mich allein und mit allen Menschen, mit denen ich Kontakt habe, einen Weg suche, in eine andere Bewusstseinsebene zu gehen. Solange wir auf der Ebene von Angst, Enge, Sorge um uns, der Furcht vor Bedrohung und Mangel, solange wir in diesem Lebensgefühl verweilen, werden wir wahrscheinlich nicht sehr viel Aufbauendes für uns selbst und füreinander tun können.

Wenn wir in einen Zustand kommen von Vertrauen, Freude, Zuversicht, Liebe, Verständnis, werden wir aus diesem Zustand heraus auch unsere Welt verändern können. So tue ich alles was ich kann, um für mich selbst immer wieder in diese Zustände zu kommen und auch anderen zu helfen, dass ihnen das gelingt. Ich bin zuversichtlich, dass wir im Moment in einer so heftigen Krise sind, dass früher oder später die allermeisten bemerken, dass sie nicht mehr einfach so weitermachen können. Und dass das System, das uns bisher beherrscht hat, auch so nicht mehr bleiben kann. Dass wir eine andere Orientierung brauchen.

Was passiert bei Menschen in Heilberufen, die einen Burnout erleiden?

Ich habe viele Menschen mit Burnout behandelt. Aus meiner Wahrnehmung ist da immer eine innere Stimme, die nach Veränderung ruft. Aber die Menschen können diese Stimme nicht wahrnehmen. Sie investieren sehr viel Kraft in ein System. Oft arbeiten sie sehr viel. Weil sie mal glaubten, sie hätten Vorteile durch dieses starke Engagement bei der Arbeit. Obwohl sie aber schon merken, dass es sie schädigt. Dass sie das Eigentliche, was in ihrem Leben anklopft, versäumen.

Man kann beim Burnout beobachten, dass es nicht ausreicht zu sagen: Na gut, dann ruhe ich mich halt mal ein paar Wochen oder Monate aus – und dann mache ich wieder weiter wie vorher. Ein Mensch braucht in dieser Zeit des Innehaltens Beziehungen und Therapie, die ihm hilft, das zu entdecken, was diese innere Stimme sucht. Wenn er das findet, wird er nicht einfach weitermachen wie vorher. Es wird eine Veränderung geben. Vielleicht wird er sogar dieselbe Arbeit machen wie vorher. Aber er wird sie in einem anderen Geist, in einer anderen Haltung machen.

Was bedeutet Gesundheit für sie?

Ich fand mal eine Definition eines Kollegen, die mich beeindruckt hat. Er nannte die Gesundheit inneren Frieden. Das ist für mich ein Zustand, in dem ich nicht mehr das Gefühl habe, irgendetwas bekämpfen zu müssen. Weil ich mit allem freundlich, liebevoll, vertrauensvoll zurechtkommen kann. Weil ich allem begegnen kann. Gelassenheit und Freude, die daraus erwächst. Ich glaube, das ist unser natürlicher Zustand. Deswegen ist mein Anspruch nicht weniger als das: Solange der Mensch keinen inneren Frieden hat, ist es mit der Gesundheit auch nicht weit her.

Ich würde sogar so weit gehen, dass ein Mensch, der kurz vor dem Sterben steht, vollkommen gesund sein kann. Ich hatte eine Patientin, die mir sagte: „Herr Doktor, ich weiß: Ich habe eine Krebserkrankung und habe nur noch vier Wochen zu leben. Aber ich sage Ihnen eins: ich bin noch nie so glücklich gewesen wie jetzt.“ Sie war vollkommen mit sich im Reinen.

Wie ist ihr Umgang mit dem Tod?

Ich denke, dass diese ungeheure, hysterische Angst vor dem Virus natürlich damit zu tun hat, dass wir vorher den Tod schon systematisch über lange Zeit verdrängt haben. Er spielte gar keine Rolle. Man dachte so wenig wie überhaupt nur möglich an ihn. Und das ist jetzt hochgekommen. Es wird sicherlich ein wesentlicher Teil der Heilung unser Gesellschaft sein, dass wir wieder mit dem Tod umgehen lernen. Dass wir sogar entdecken, dass der Tod gar nicht das Schreckliche ist, was wir alle so lange es nur geht vermeiden sollten. Der Tod kann ein Freund sein, er kann genau zur richtigen Zeit kommen und er gehört zum Leben dazu.

Mit Ayahuasca bin ich zum Beispiel einmal dem Tod so nahe begegnet, wie ich es nicht für möglich hielt, dass das als Lebender möglich ist. Ich habe realisiert: Es gibt nichts zu fürchten. Vielleicht kann unsere Kultur das auch wieder lernen. Es gibt indigene Völker, wo diese Angst nahezu nicht herrscht, weil sie schon im Leben den Umgang mit dem Tod lernen. Eine der Nebenwirkungen von Meditation ist es, dass man durch beständige Praxis die Angst vor dem Tod verlieren kann.

Was bedeutet Heilung für Sie?

Auch negative Gefühle können heilsam sein. Wir brauchen sie. Angst, Traurigkeit, Wut, Scham. Alle Gefühle haben das Potential, wenn wir sie spüren, uns gesünder zu machen. Heilung ist für mich der Weg vom Unfrieden in den Frieden. In den Einklang. Ein gesunder Mensch, das ist das Schöne: Der handelt auch wohlwollend anderen gegenüber. Der wird nicht Gesundheitssysteme errichten, wo andere Menschen geschädigt und ausgenutzt werden. Wenn man als Autorität schädliche Maßnahmen verordnet, kommt das auch aus einer Erkrankung, die einem vielleicht selbst nicht bewusst ist.


Auf dem Weg zu einem Ayahuasca-Ritual in Brasilien

Was ist Ayahuasca und was sind Ihre Erfahrungen damit?

Das war die Wende in meinem Leben. Vor einigen Jahren hatte ich eine Zeit, in der  ich mit meinem Leben und meiner Arbeit sehr unglücklich war. Obwohl ich im Grunde immer ein erfolgreicher Arzt war, nahmen meine Depressivität und meine Erschöpfung zu. Ich spürte, irgendetwas muss geschehen, ich kann nicht so weitermachen. Meine innere Stimme sagte: Mach eine Auszeit. Die nahm ich mir für ein halbes Jahr. Ich wurde für verrückt erklärt: Du wirst scheitern, du wirst deine Praxis nie wieder aufbauen können. Aber ich wusste, ich muss das machen.

Und dann hatte ich ein halbes Jahr ohne Pläne. Ich habe mir nichts vorgenommen, habe einfach geschaut, was geschieht. Aber ich hatte den tiefen Wunsch, eine Lösung meiner Situation zu finden. Und dann wurde ich nach Südamerika eingeladen. Im tiefsten Urwald begegnete ich einer Gemeinschaft, in deren kulturellen und religiösen Mittelpunkt die Medizin Ayahuasca stand. Für sie ist Ayahuasca etwas Ähnliches wie im Katholizismus die Eucharistie: Ein Gemeinschaft stiftendes und mit Gott verbindendes Sakrament. 

Ayahuasca ist ein Saft, der aus zwei Pflanzen des Regenwaldes hergestellt wird. Die Ureinwohner des Regenwaldes und auch die Gemeinschaft, die ich besuchte, glauben, dass dieser Saft einen Zugang zur innersten Lebenskraft und zum Zentrum der Selbstheilungskraft eröffnet. Sie glauben es auch nicht nur, sie erfahren es so.


Banisteriopsis caapii, einer der beiden Bestandteile von Ayahuasca

Ich selbst habe es nicht für möglich gehalten, dass ich durch eine Einnahme eines Pflanzensaftes überhaupt etwas bemerke. Mich hatte noch nie eine Substanz  seelisch tiefer beeindruckt, ein bisschen Kaffee oder Wein vielleicht. Deshalb war ich dann absolut überrascht,  wie dieser Saft auf mich wirkte: Es war dramatisch. Beim ersten Mal dachte ich, ich würde sterben.  Es kamen so viele ungelöste Gefühle auf einmal in mir hoch, dass ich vollkommen davon überschwemmt war und in dieser Nacht schrecklich gelitten habe. Aber am Ende des Rituals – diese erste Nacht dauerte damals 12 Stunden – habe ich mich glücklich und befreit gefühlt. 

Ich blieb bei diesen Menschen längere Zeit und habe die Arznei Ayahuasca studiert. Ich gewann die Überzeugung, dass Ayahuasca eine ungeheure kraftvolle Medizin ist, wenn man richtig damit umgeht. Man sollte Ayahuasca niemals ohne einen integren erfahrenen Begleiter einnehmen.Das Setting eines Rituals und die richtige Dosierung sind entscheidend. In meiner Praxis arbeite ich auch homöopathisch mit Ayahuasca. Bei keiner anderen Arznei meiner Praxis habe ich so oft gehört „Herr Doktor, das was sie das letzte Mal gegeben haben, das aus dem Urwald, von den Indianern, geben Sie mir das doch bitte wieder.“

Diese Medizin hat auch in ihrer homöopathischen Form bereits sehr vielen Menschen geholfen. Das Erstaunlichste ist für mich die Veränderung, die ich bei meinen Patienten nach der Einnahme sehr häufig beobachte: Es ist ihnen nicht mehr möglich, in Arbeitsverhältnissen zu bleiben, die sie unglücklich machen. Sie finden etwas, was ihrer Natur entspricht. Das habe ich sicher 150 Mal erlebt. Natürlich muss man immer vorsichtig sein, wenn man eine Ursache-Wirkung-Relation herstellt. Man kann nicht einfach sagen: „Die Medizin bewirkt das“, aber ich kann Zusammenhänge beobachten. Ich beobachte bei Patienten, die diese Arznei bekommen, sehr oft wunderbare Entwicklungen von seelischer Krankheit hin zu  seelischer Gesundheit. Von sehr unbewusstem Leben zu einem sehr bewussten Leben. In besonderer Weise beobachte ich, dass sie sehr oft etwas in ihrer Arbeit verändern können, so dass sie dabei mehr Freude und Erfüllung finden.


Psychiatria  viridis, einer der beiden Bestandteile von Ayahuasca

Was Sie beschreiben, mag für viele „unmöglich“ klingen. Warum ist das so?

Ich habe das Glück, dass in meine Praxis lauter Menschen kommen, die aus sich selbst einen Impuls haben, „wach“ zu werden. Diese Menschen haben schon erlebt, dass das materialistische Weltbild, das in unserer Gesellschaft herrscht, und der Glaube an das Geld als höchsten Gott, dass sie das an ihre Grenzen und ins Leiden gebracht hat. Sie suchen nach etwas anderem. Sie wissen, dass sie durch die Anhäufung von Geld, von Konsumgütern und Karriere alleine nicht glücklich und gesund sein können. Das zeigt ihnen auch oft ihr Körper oder andere gesundheitliche Beschwerden der Seele.

Sobald ein Mensch sich für die Möglichkeit öffnet, dass es da noch etwas anderes gibt, einen anderen Gott als das Geld und etwas anderes als nur Materie, dass es eben Geist und Seele gibt, und dann direkt selbst in Kontakt tritt mit Menschen, die sozusagen schon beseelt, also sich ihrer Seele bewusst sind, dann kann es ganz schnell gehen, dass sich das Weltbild ändert. Für mich ist es etwas Wunderbares, wenn ein Geschäftsführer einer großen Firma plötzlich anfängt, seine eigene Seele zu entdecken. Zu mir kommen sehr viele solcher Menschen. Wer hingegen weiter im Glauben an Materie, Geld und Karriere feststeckt, ich glaube, der wird in den kommenden Jahren immer mehr in eine Krise geraten. Denn diese Zeit erschüttert dieses alte, materialistische Weltbild. Es wird nicht mehr funktionieren.

Fühlen Sie sich für Ihre Arbeit angemessen wertgeschätzt?

100 Prozent ja. Mich hat nie besonders interessiert, wie viel Geld ich verdiene. Es war immer genug für das, was ich brauchte. Aber selbst in dieser Hinsicht bin ich zufrieden. Und ich erlebe so viel Dankbarkeit von meinen Patienten, und so viel Liebe, dass ich sehr glücklich bin für das, was ich da tun darf. Ich kann sagen, dass ich wirklich sehr glücklich über diese Wertschätzung bin. Aber ich denke, dass noch Wichtigere ist, dass ich die Wertschätzung für mich selbst gefunden habe. Ich glaube, wenn ich nicht arbeiten könnte, würde ich kein Entzugssymptom bekommen. Wenn ich mal zwei Wochen frei habe, ist das für mich der Himmel. In mir gibt es also eine Wertschätzung, die nicht nur von der Arbeit kommt, sondern von Innen, vom Leben, aus mir Selbst heraus. Aber natürlich ist es schön, wenn es sich auch bei den Menschen spiegelt, die ich behandele.

Nach welchen Werten würden Sie ein Gesundheitswesen aufbauen?

Das Wichtigste in einem Gesundheitswesen ist für mich, dass es geprägt ist von Wohlwollen und individuellem Einfühlungsvermögen. Dies Qualitäten sollten die Menschen besitzen, die einen medizinischen Beruf ausüben oder Strukturen des Gesundheitssystems erschaffen. Der Patient muss spüren: Meine Krankenkassen und meine Ärzte meinen es gut mit mir. Das ist so schön, wenn ein einzelner Patient mir davon erzählt: Ich habe gespürt, dass sie es wirklich gut mit mir meinen. Aber das ist nicht mehr die Regel. Die Menschen erfahren oft einen Mangel an Wohlwollen. Oft werden sie so unsensibel behandelt. Wie eine Maschine.

Natürlich ist es auch wichtig, dass die menschliche Seele verstanden wird. Wir können keine Medizin betreiben, die nur die Materie im Blick hat. Körper und Geist gehören gemeinsam in die Medizin. Zusammenarbeit ist so wichtig. Dass nicht jeder Fachmann nur sein Ding macht. Sondern dass es ein Zusammenwirken gibt von den verschiedenen Disziplinen. Auch von den Ärzten, die sich mehr um die Seele, und denen, die sich mehr um den Körper kümmern. Es braucht eine Synthese, eine Gesamtschau.

Das Gesundheitssystem darf nicht davon bestimmt werden, dass damit Geld maximiert und Kapital angesammelt wird, indem große Organisationen immer mehr Geld durch das Gesundheitswesen erwirtschaften. Diesen riesigen Organisationen gegenüber müssen wir sehr kritisch sein. Es ist schrecklich zu hören, dass Menschen an karitative Organisationen Geld spenden – und dann wird das Geld in Gesundheitsmaßnahmen gesteckt, die der Industrie dienen und nicht dem Menschen. 

Die einzelnen Menschen innerhalb des Gesundheitssystems, zum Beispiel die Krankenschwestern und Altenpfleger, brauchen eine bessere Vergütung. Es braucht eine Wertschätzung der persönlichen Zuwendung. Wenn wir eine Medizin haben, in der Menschen Wohlwollen erleben, wenn sie sich nach den medizinischen Maßnahmen wieder mehr verbunden fühlen, mit sich selbst, der Natur, miteinander, wenn sie deswegen wieder glücklicher und friedvoller leben können: Dann haben wir die richtige Medizin.

Foto-Credit: Johannes Latzel

Online: https://www.tanzmitderstille.de/

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