Es ist ein Paradox, dass menschliche Lust in medizinischen Ausbildungen keine Rolle spielt. Da sieht man, unser Gesundheitssystem ist nicht dazu gemacht, Spaß zu haben.“ – oder –Wenn ich nicht irgendwann im Krankenhaus landen will, brauche ich ein Bewusstsein, wie ich gesund lebe und bleibe. Bewegung an der frischen Luft ist tolle Prävention, wird aber nicht als Gesundheitsmaßnahme verschrieben. Für die Sexualität gilt das auch. Es wäre hilfreich, wenn das auch so kommuniziert wird. Damit könnte man vielen Zivilisationskrankheiten im Voraus präventiv begegnen.“


Yella Cremer

Speakerin, Autorin. Ursprünglich in der IT-Branche, 2005 Gründerin Tantra-Massage-Praxis in Essen, 2012 Gründerin der Liebes- und Sexschule „LoveBase“ in Berlin, die sie seit 2015 online weiterführt. Informiert über Sexualität und Persönlichkeitsentwicklung in Workshops, Vorträgen und Büchern.
https://www.lovebase.com/


Für meine Interviewreihe „Mach’s weghabe ich rund 50 Interviews mit verschiedensten Perspektiven auf das Thema Gesundheit geführt. Schließlich wussten schon unsere Großeltern: Das Wichtigste im Leben ist die Gesundheit. Aber was ist das überhaupt? Lässt sich Krankheit einfach „wegmachen“? Und wieso kümmern sich Menschen umeinander?


Laurens Dillmann: Was genau ist der Inhalt deiner Arbeit?

Yella Cremer: Ich nenne mich Sex-Forscherin und mache, mangels eines deutschen Wortes, Sex-Education. Sexuelle Bildung, überwiegend über Bücher, zum Teil über Workshops, Online-Kurse und Coaching. Eine Weile habe ich mich Sex-Expertin genannt, erst vor einer Woche hat jemand den Begriff Sex-Forscherin ins Spiel gebracht. Ich fand das noch angemessener, obwohl ich nicht wissenschaftlich arbeite. Im Grunde genommen forsche ich permanent, weil es gerade im Bereich Sexualität nichts gibt, von dem man sagen kann, es ist eindeutig und es bleibt für immer so..

Warum ist Sexualität dein Lebensthema und wie ist sie zu deinem Beruf geworden?

Ich habe einen bunten beruflichen Lebensweg. Durch Zufall bin ich auf Tantra-Massagen gestoßen, da habe ich die Spur aufgenommen. Diese Art von Körperarbeit, wo mein sexuelles Wesen wirklich da sein darf, hat mich total fasziniert. Ich habe sofort selbst Tantra-Massage gelernt und damit in einer Praxis gearbeitet. Nebenberuflich zu meiner Projektarbeit mit Computern (lacht). Später habe ich eine eigene Praxis gegründet.

Über diese Körperarbeit bin ich in das Thema Sexualität sehr eingestiegen. Weil es ungewöhnlich ist, dass Sexualität in einer Massage mit einfließen darf. Ich habe dabei sehr viel darüber gelernt, wie unterschiedlich Menschen ticken. Und über die Jahre habe ich gemerkt: Das Lehren macht mir am meisten Spaß. Ein Team ausbilden. Aber auch mit Menschen, die als Kunden in die Praxis kommen. So habe ich angefangen zu lehren, über Vorträge und Einzel-Coachings. Irgendwann war klar: Ich weiß ein bisschen mehr als andere und das gebe ich weiter. Das war mein eigener Weg, über viele Fortbildungen. Ich habe aber keine spezifische Sexologie-Ausbildung, es ist einfach praktische Erfahrung. Ich bin über den IT-Bereich im Troubleshooting ausgebildet: Ich habe die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Und in meinem allerersten Leben war ich Sozialpädagogin, das heißt die Arbeit mit Menschen in verschiedensten Gruppen ist mir vertraut.

Warum ist das mein Lebensweg? Ich habe gemerkt, ich lerne einfach von alleine immer weiter über Sexualität. Und es gibt die Vermischung zwischen: Es tut mir privat gut, und fügt sich ganz leicht zu einem Beruf. Es war wie eine Spur, die ich die letzten 20 Jahre verfolgt habe. In ganz verschiedenen Rollen. Als Körpertherapeutin, Leiterin meiner Tantra-Massage-Praxis, hin zu Einzelarbeit mit Menschen, hin zu didaktischer Aufbereitung: Wissen in ein Buch packen, in Onlinekurse und Workshops. Das ging alles im Fluss.

Auf welche Werte berufst du dich?

Der tiefste Wert ist Wahrheit. Und Schönheit. Wenn Menschen zu dem stehen, was und wer sie sind, entsteht Schönheit. Es kommt darauf an, wertzuschätzen, was ich in mir als wahr empfinde. Von da aus entstehen Entfaltung, Schönheit, Vielfältigkeit. Und mir ist Authentizität wichtig, vor allem in der Kommunikation. Wenn ich lerne, zu kommunizieren, wer ich wirklich bin, entsteht Verbindung mit anderen Menschen. Verbindung, auch ein wichtiger Wert.

Wie hängen Sexualität und Gesundheit zusammen?

Letztendlich gibt es keine Gesundheit ohne Sexualität. Damit meine ich Sexualität sehr weit gefasst. Ich gehe davon aus, dass Sexualität eine Kraft ist, die in uns lebt. Wir können uns auf verschiedene Arten und Weisen damit verbinden. Ob es eine sexuelle Begegnung mit einem Gegenüber ist, in der Selbstbefriedigung, oder auch in der Form, dass man bloß auf diese Energie meditiert und sie in sich selbst wahrnimmt. Man kann sie in sich aktivieren und als spirituelle Kraft nutzen.

Ich glaube, Menschen sind nur gesund, wenn sie mit sich im Einklang sind. Also brauche ich einen bewussten Umgang mit Sexualität. Gesellschaftlich wird es leider noch häufig als bloßer Trieb abgetan, und sich nicht darum gekümmert, bis der Trieb nach oben ploppt. Das fällt früher oder später allen auf die Füße. In Form von Stauung, Stress, Langeweile, Depression. Wenn ich mich mein ganzes Leben lang dem Thema Sexualität nicht widme, kann ich dauerhaft nicht gesund sein und bleiben.

Wieso gehört Sexualität zu einem gesunden Leben?

Es gibt in erster Linie ein Bedürfnis nach Berührung. Wir leben in einer Kultur, deren Problem die Berührungslosigkeit ist. Man schüttelt sich höchstens die Hände, und wenn man sich umarmt, dann zu kurz, um wirklich zu landen. Wir habe eine kulturelle Situation, die gegen uns spielt und wir müssen sie individuell lösen. Ich muss für mich selbst schauen, in einer Umgebung zu leben, in der ich genügend Körperkontakt bekomme.

Unsere Eltern haben oft nicht gelernt, uns genug Berührung zu geben. Die Fähigkeit, selbst danach zu fragen, sie sich zu „organisieren“, aber auch ein Stopp zu setzen, wenn man sie nicht mehr möchte, müssen viele Menschen im Nachhinein selbst lernen. Hier gibt es Trauma in beiden Richtungen, zu wenig Berührung, oder zu viel Berührung, gegen die man sich nicht wehren konnte: “Jetzt musst du aber die Tante küssen” oder sich Knuddeleien gefallen lassen, die nicht angenehm sind.

Hier kommt wieder meine Idee von Forschung ins Spiel: Auf die Spur kommen: Was brauche ich eigentlich? Und wie kann ich es kriegen? In meiner Erfahrung spielt die Umgebung eine riesige Rolle. Wenn man die Erfahrung macht, an einen Ort zu kommen, wo Menschen sich von alleine anfassen und kuscheln, verändert das etwas in einem. Genauso wenn ich unter Menschen bin, die eine sexpositive Haltung haben und mich in meiner Lust feiern – egal mit wem ich die dann auslebe. Neben dem “Hauthunger”, dem Bedürfnis nach Berührung, ist es auch wichtig, Wege zu finden, die eigene Lust zu erleben – wie auch immer die aussehen, denn das ist nach meiner Erfahrung sehr unterschiedlich und ändert sich im Laufe des Lebens. Ekstase ist wie der Hauthunger ein Grundbedürfnis.

Meine Arbeit richtet sich überwiegend an Erwachsene, deswegen erreiche ich die Jugendlichen nicht. Aber ich würde mir wünschen, dass Kuscheln und Glück ein Schulfach wären. Ich würde sagen: Schafft eine Kultur des Kuschelns, des Anfassens. Das ist ein existenzielles menschliches Bedürfnis.

Wie hast du dich selbst verändert, seitdem du forschst und lehrst?

Als erstes brauchte ich Mut, mit meiner Arbeit sichtbar zu sein. Selbst die Arbeit im geschützten Rahmen in meiner Tantra-Massage-Praxis, hat meinen Freundeskreis verändert. Ich wollte nicht mauscheln, mir kein Pseudonym zulegen, also wussten meine Freunde, was ich mache und nicht alle waren einverstanden.

Ich gehe durch Phasen, das reflektiert sich natürlich in meiner Arbeit. Das Schwierigste an meiner Arbeit ist, authentisch mit meinem eigenen Leben zu sein. Leute von außen projizieren lustig auf mich. Da gab es eine Frau in einer alternativen Frauengruppe, die meinen Namen hörte, mich von oben bis unten musterte und sagte „Ich dachte, du bist sexyier“. Autsch. Mit diesen Projektionen entspannt zu sein, ist eine Aufgabe. Ich bin zu einem guten Teil meiner Persönlichkeit introvertiert. Das passt gut zum Schreiben. In dem Moment, wo ich damit nach draußen gehe, muss ich wissen: Ich werde sichtbar – und wahrscheinlich auch falsch verstanden. Weil es mir wichtig genug ist, gehe ich trotzdem nach draußen. Es hat Konsequenzen und das braucht Mut.

Ich bin radikaler geworden. Indem ich sage, was ich denke, was funktioniert und was nicht. Gleichzeitig über die Arbeit mit so vielen unterschiedlichen Menschen habe ich einen immer größer werdenden Erlaubnisraum kultiviert: Das fühlt sich gut an, das und das und das auch. Es gibt für mich im Bereich der Sexualität kein: So sollte es sein. Meine Grundhaltung ist: Unterstützen, was sich für die Person im Einklang anfühlt. Dafür braucht es diese innere Erlaubnis und die habe ich viel im Kontakt mit meinen Klienten und Klientinnen gelernt.

Mit wie vielen Menschen hast du zusammengearbeitet, wie viele hast du beeinflusst?

Wenn ich all die Menschen schätze, bei denen ich auf irgendeine Art eine Spur hinterlassen habe, sind es sicher ein paar hunderttausend.

Was für Rückmeldungen bekommst du und was machen sie mit dir?

Ganz häufig sagt man mir: Ich betrachte brenzlige Themen entspannt und freundlich. Es ist klar, wenn ich über Sex rede, hat das nichts mit Peinlichkeit, Schwierigkeit und Scham zu tun. Das schätzen Menschen an mir. Und meine Kompetenz. In der Regel gucke ich auf das unmittelbare Thema und auf all das, was dahinter liegt. Ich betrachte konkrete Zusammenhänge und erforsche die innere Haltung dahinter. Und ich habe auch ganz praktische, pragmatische Vorschläge. Mich freut es total, wenn Menschen mich so wertschätzen und mir sagen, dass ihre Haltung sich verändert hat. Wenn sie liebevoller und entspannter mit sich selbst und miteinander sind. Und natürlich auch, wenn ich sie inspiriert habe etwas auszuprobieren. Ein anderer Punkt ist, wenn sie wieder zuversichtlich sind, dass guter Sex auch für sie möglich ist – ganz persönlich. Da fühle ich mich gesehen und wirksam.

Ich bin als Jugendlicher sehr früh mit Pornos konfrontiert worden und es hat lange gedauert, bis ich mich von diesen Bildern gelöst habe. Welche Rolle spielt das Geborgensein in der Sexualität?

Es ist wichtig, dass wir als Mensch UND als sexuelles Wesen willkommen sind. Als Mensch mit unseren Fähigkeiten und Talenten und als Körper  mit sexuellem Kern. Im konventionellen Sex – wie zum Beispiel in Pornos dargestellt – fehlt es oft an wirklicher Intimität. Sich nahe kommen ist mehr als rein-raus im physischen Sinne. Sich begegnen und einander wirklich meinen, das ist der Schlüssel. Da geht es nicht um Techniken, sondern um die Frage, ob ich mich wirklich entspannen kann. Wenn ich dir in die Augen gucke, fühle ich mich dann willkommen? Kann ich dir selbst im persönlichsten Moment des Orgasmus noch in die Augen gucken? 

Das bedeutet alles, dass ich in meinem Körper zuhause bin. Pornos legen dir nahe, Sex im Kopf zu erleben und dann im echten Leben. Bilder und Techniken zu wiederholen, von denen du fantasierst. Im Körper geht es aber um Wahrnehmung. Wie empfindest du die Berührung? Ist das Tempo richtig? Bis zu den kleinsten Details, wie ist die Hauttemperatur, die Feuchtigkeit? Kann ich mich dem Rhythmus anpassen? Um all diese Dinge zu fühlen, muss ich gut in meinem Körper verankert sein und wer zuerst viel Sex in seinem Kopf erlebt hat, findet es häufig gar nicht so einfach den Körper zu fühlen. Man sieht das bei Tänzern sofort: Ob sie eine Technik anwenden, oder ob sie es mit Gefühl und im Fluss tun. 

Was ist sexuelle Energie und wie vermittelt man dieses Prinzip?

Als erstes: sexuelle Energie ist in uns, wir müssen sie nicht “kreieren” oder durch irgend etwas von Außen in unsere Leben bringen. Sie gehört dazu wie Atmen, nur das wir sie meistens nicht bewusst wahrnehmen. Die Verbindung dazu kann ich durch Innehalten und mich einfühlen herstellen. Obwohl Sex scheinbar auch ein guter Weg ist, sexuelle Energie zu erleben, fühlen viele Menschen bei schnellem Sex erstaunlich wenig sexuelle Energie: Zu viel passiert auf einmal. Daher ist oft die Verlangsamung ein Weg zu mehr Intensität. 

Es braucht auch das Annähern in der Sprache. Viele Menschen finden überhaupt nicht die Worte, mit denen sie sich mitteilen können und sie haben keine Worte für Genitalien, mit denen sie sich wohl fühlen. Was ist der richtige Begriff für das, was du wahrnimmst? Mit „Energie“ können viele nichts anfangen. Aber fühlt es sich genährt an? Erfüllend? Das liegt vielen näher. Beruhigt sich etwas in dir? Wird etwas still? Geht etwas auf – dein Herz zum Beispiel. Frauen merken zum Beispiel, dass sich ihr Schoßraum entspannt. Eine Weitung.

Hier auch der Forschungsansatz: Beschreibe einfach, was du wahrnimmst ohne “gut” und “schlecht”, “richtig” und “falsch”. Und schaue, was mit deinem Gegenüber resoniert. Sprich, bis du merkst, du bist verstanden worden. Wir haben einen inneren Kompass, der uns sagt: Ich bin gelandet. Dem können wir folgen.

Wie kann ich damit umgehen, wenn es mir schwerfällt, mich hinzugeben und zu vertrauen?

Zwei Dinge fürs Erste-Hilfe-Kit: Das erste ist Atmen. Über den ruhigen, bewussten Atem kommst du runter. Du kannst dich selbst regulieren. Das zweite ist Co-Regulation. Wenn du ein Gegenüber hast, das ruhiger ist als du, hilft dir das  zu entspannen. Wenn du als Gegenüber den Raum hältst: Okay, ich bin weiter hier. Wie ist es? Erzähl mal. So wird sich das hochgefahrene Nervensystem dem beruhigten wieder anpassen. Auch eine wichtige Übung für Partnerschaft. Wenn der andere sich plötzlich schlecht fühlt, musst du nicht der Grund sein. Es können alte traumatische Erfahrungen sein. Du kannst sogar helfen, die Situation zu regulieren.

Wie erlebst du die „Mach`s weg“-Mentalität in der Sexualität? Wie wird in Therapien mit Problemen umgegangen? Was sind deine eigenen Ansätze?

Der schulmedizinische Klassiker ist Viagra. Ein Riesenmarkt. Da wird eine Pille genommen, um ein Problem zu lösen, ohne die Geschichte dahinter anzugucken. Ich halte unser schulmedizinisches System für wichtig. Aber auch nur für einen Anteil des Ganzen. Es ist wunderbar, dass wir zum Beispiel Antibiotika und gut ausgebildete Chirurgen haben. Aber oft fehlt das Schauen auf den gesamten Menschen. Gerade im Bereich der Sexualität gibt es an sich kaum sinnvolle Ansätze in der Schulmedizin. Sexuelles Erleben oder Lust hat dort keinen Platz. Und ein Vermitteln der Erfahrung: Sex wird nicht immer supertoll sein. Auch nicht mit dem „richtigen“ Menschen. Ich vergleiche Sexualität gerne mit Essen. Nur weil ich gerne leckeres Essen esse, kann ich noch lange nicht kochen. Ich muss es erst  lernen – z.B. mit Rezepten, Ausprobieren oder Tipps von anderen.

Sexualität ist auch eine Kulturleistung, deren Qualität ich verfeinern kann. Wenn ich immer nur triebgesteuert irgendetwas tue, geht die Qualität verloren. Das anzuerkennen, ist ein großer Schritt. Ich denke auch, unser Gesundheitssystem müsste weitergehen, als nur die Behandlung von Krankheit zu garantieren. Wenn ich nicht irgendwann im Krankenhaus landen will, brauche ich ein Bewusstsein, wie ich gesund lebe und bleibe. Bewegung an der frischen Luft ist tolle Prävention, wird aber nicht als Gesundheitsmaßnahme verschrieben. Für die Sexualität gilt das auch. Es wäre hilfreich, wenn das auch so kommuniziert wird. Damit könnte man vielen Zivilisationskrankheiten im Voraus präventiv begegnen.

Was ich als Frau auch immer wieder mitkriege: Wir werden angehalten, regelmäßig zum Gynäkologen zu gehen. Da wird der Körper aber auch immer unter dem Funktionsaspekt betrachtet. Gynäkologen wissen oft überhaupt nichts über weibliche Lust und viel über Reproduktion und Krankheit. Es ist ein Paradox, dass menschliche Lust in medizinischen Ausbildungen keine Rolle spielt. Da sieht man, unser Gesundheitssystem ist nicht dazu gemacht, Spaß zu haben. Wir lernen höchstens vom Kinderkriegen und der Menopause. Das ist ein wirklicher Missstand, den ich gerne behoben sehen würde.

Siehst du einen gesellschaftlichen Wandel in der Art, wie wir über Sexualität kommunizieren?

Wir brauchen viel mehr gut ausgebildete Sexualpädagogen und Pädagoginnen. Heute ist es oft so, dass die erste sexuelle Aufklärung Pornos sind. Und das ist einfach nicht gut. Das ist wie Autofahren lernen, indem man Actionfilme mit Verfolgungsjagden guckt.

Es gibt einige umfassende Youtube-Kanäle, die sich der Sexualität widmen, häufig auch eher reißerisch. Instagram ist voll von schönen Menschen, die sich toll in Szene setzen. So entsteht noch mehr Druck, sexy zu wirken und das Gefühl, das alle anderen tollen Sex haben, nur man selber nicht. Es gibt in Social Media auch andere Menschen, die sich dem Thema widmen und Menschen unterstützen, sich zu öffnen. Aber das ist eine Nische, nicht die Masse. Die größten Youtube-Themen sind nach wie vor Kosmetik und Gaming.

Wie empfindest du unseren Umgang miteinander in der Corona-Zeit?

Die erste Zeit habe ich mich isoliert, aber nach kurzer Zeit einen inneren Kreis von Menschen definiert, mit denen ich wieder Körperkontakt hatte. Anders ging es für mich nicht. Es braucht jetzt besondere Aufmerksamkeit dafür, wie ich dafür sorgen kann, dass es mir gut geht.

Zur Zeit habe ich ein Gefühl, es gibt nur ganz oder gar nicht. Leute, die sich überhaupt nicht einschränken wollen und Menschen, die sich komplett einigeln und das Haus nicht mehr verlassen wollen. Das halte ich eher für einen Akt der Retraumatisierung, von einer ohnehin bekannten Einsamkeit. „Berührung gibt es nicht für mich.“ Aber ohne Berührung gedeihen wir nicht. Die „Ist mir doch egal“-Mentalität finde ich aber auch super arrogant. Es betrifft schließlich nicht nur dich. Dass es plötzlich Parteilager gibt, die dich zwingen wollen, ihre Ansicht zu glauben, finde ich befremdlich. Der Tonfall ist sehr verschärft. Mit meinem inneren Kreis kommuniziere ich dafür viel klarer: „Du bist mir wichtig.“ Da ist eine Nähe entstanden, die vorher gar nicht angesagt war.

Fühlst du dich gesellschaftlich für deinen Beruf angemessen gewürdigt?

Würdigung erlebe ich meistens individuell und sie freut mich sehr. Das gibt mir die Motivation für meine Arbeit, die ja häufig im stillen Kämmerlein über das Schreiben stattfindet.. Ich glaube, es bräuchte mehr Menschen wie mich. Sexuelle Bildung ist ein viel viel größeres Feld als es die Schlagzeilen a la „so hast du tollen Sex“ suggerieren. Das bleibt häufig oberflächlich und hilft den Menschen nicht. Ich möchte differenzieren und schlage leisere Töne an. Als Mensch bin ich eher schüchtern und introvertiert. Ich liefere keine einfachen Rezepte. Bei mir gibt es eher Gourmetküche.

Fantasiespiel: Du bist Königin deines Landes und kannst dir ein Gesundheitswesen erschaffen:

Zuerst mal ganz pragmatisch: Andere Wohnformen als unsere Kleinfamilien-Kästen. Das Leben in Gruppen und in Häusern, die Gemeinschaftsräume haben. Ich glaube, das wäre viel gesünder als diese oft auseinanderbrechenden Kleinfamilien. Dort findet man oft nicht genug Identifikationsfiguren, und die geschlossenen familiären Räume öffnen Türen für psychologischen und physischen Machtmissbrauch.

Im Bereich Sexualität braucht es viel mehr Bildung. Bei Mädchen ist ein Knackpunkt, dass sie in die Menarche, in ihre erste Menstruation, rasseln und es in der Regel nicht positiv gewertet wird. Und sie denken „Jetzt habe ich diesen Fluch für die nächsten 40 Jahre“ anstatt „Hey, Fruchtbarkeit. Toll!“. Nach meinem Empfinden gibt es Umbrüche im menschlichen Leben, für die einfach zu wenig Zeit ist. Wir brauchen Zeiten des Wandels. Mehr Zeit als wir dafür zugestanden kriegen. Und wir brauchen Schulfächer für Berührung, Konsens finden, Selbstwahrnehmung, Kommunikation, Glück, Selbstverantwortung. Außerdem brauchen wir ein Grundeinkommen – auch für Gesundheit. Dass ich leben kann, ohne etwas tun zu müssen, was mir nicht wirklich entspricht. Ich glaube, das hat sogar ein englischer Gesundheitsminister gesagt: „Die Leute werden auf jede erdenkliche Weise krank. Warum sollten wir verhindern, dass sie auf jede erdenkliche Weise gesund werden?“

Es gibt so viele verschiedene Arten von Medizin. Jeder soll gesund werden wie er oder sie will. Der Wunsch nach Alternativmedizin braucht Raum in einem staatlichen Gesundheitssystem. Es muss als Möglichkeit etabliert sein. Wir haben einfach ein zu profitorientiertes Gesundheitssystem. Krankenhäuser, die Profit machen müssen. Pharmaindustrien, die mit dem Gesundheitssystem verwoben sind.

Ich glaube, den alten Chinesen wird nachgesagt, dass der Arzt dort erst bezahlt wurde, wenn du gesund bleibst. Wenn du dort durch den Park gehst, siehst du Menschen die zusammen Qi-Gong machen. In Japan gibt es das Waldbaden. Gemeinsame Aktivitäten, miteinander etwas Gesundes, Guttuendes machen, das sollte gesellschaftliche Normalität sein. Wir brauchen zudem einen Informationsfluss darüber, wie wir gesund bleiben können. Zum Beispiel sollten wir über Polyvagal-Theorie Bescheid wissen. Wissen darüber, wie wir uns gesund halten. Es wäre schön, wenn es für alle Menschen Gesundheitsexperten gäbe, die uns begleiten und die ein Eigeninteresse daran haben, dass wir gesund sind. Im jetzigen System ist das nicht der Fall.

Foto-Credit: Laurens Dillmann, Yella Cremer

Online: https://www.lovebase.com/

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4 Gedanken zu “Sexualität ist eine Kulturleistung – mit Sex-Forscherin Yella Cremer”

  • Großartige Aussagen, die ich voll unterstütze! Und möchte ergänzen: um gesund zu bleiben, müssen Organe (Prostata, Gebärmutter usw.) gut durchblutet werden. Und das geht am besten mit Sexualität, sei es Selbstbefriedigung oder mit einem anderen Menschen. Es werden gesund machende Hormone ausgeschüttet, zb ist Oxitocyn ein Antikrebs Hormon. Es wird u.a. im Schlaf und beim Kuscheln produziert. Und es hilft gegen depressive Verstimmungen.
    Ich wünsche allen gute Berührungen! Lea

  • Danke für dieses berührende Interview! Yella wirkt auf mich (selbst in diesen paar Interview-Zeilen) sehr echt. Ihr(e) Beruf(ung) hat etwas mit ihr zu tun. Sie folgt ihrem Ruf und geht dabei gleichzeitig als Vorbild voraus. Als Frau und Mensch. Schön, dass es so etwas gibt! Das Gespräch inspiriert mich, hier für mich weiter zu forschen 🙂 Danke Laurens! Danke Yella!

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