„Im Grunde hat die Medizin verlernt, den ganzen Menschen zu sehen.“ – oder – Medizin ist eine zwischenmenschliche Praxis, in der man Evidenz mit Beziehung zusammenbringen muss, in der man Sachlichkeit mit Zwischenmenschlichkeit verbinden muss. Wir brauchen Experten für die molekularen Vorgänge im Körper und zugleich Menschen, die durch diese Vorgänge hindurch immer den ganzen Menschen im Blick behalten wollen. Medizin ist nur dann Medizin, wenn sie den ganzen Menschen behandelt.“


Giovanni Maio

Philosoph und Internist, Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg


Für meine Interviewreihe „Mach’s weghabe ich rund 50 Interviews mit verschiedensten Perspektiven auf das Thema Gesundheit geführt. Schließlich wussten schon unsere Großeltern: Das Wichtigste im Leben ist die Gesundheit. Aber was ist das überhaupt? Lässt sich Krankheit einfach „wegmachen“? Und wieso kümmern sich Menschen umeinander?


Laurens Dillmann: Wie sieht Ihr beruflicher Alltag aus?

Giovanni Maio: Das Fach der Ethik in der Medizin ist ins Curriculum der Medizinstudierenden neu aufgenommen. Es geht letzten Endes darum, das geisteswissenschaftliche Element der Medizin wieder in die Medizin hineinzutragen. Medizin ist eben keine angewandte Naturwissenschaft, sondern eine wissenschaftlich fundierte soziale Praxis. Weil die Medizin unweigerlich in die Biographie eines einzelnen Menschen und zugleich in gesellschaftliche Verhältnisse eingreift, kann sie nur als eine Verschränkung von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften verstanden werden. Mein Lehrstuhl für Ethik in der Medizin gibt mir die große Chance, Medizin und Philosophie wieder miteinander zu verschränken. Das zu verwirklichen, darin besteht mein Alltag. Ich habe kein Labor. Mein Instrumentarium ist die Reflexion, der Buchstabe und die Stimme. Mehr habe ich nicht.

Was sind die Kernthemen Ihrer Philosophie und Medizinethik?

Mir geht es um die Frage, was Medizin in ihrem Kern ausmacht und was aus ihrer genuin sozialen Identität zu folgern ist. Das Grundproblem der modernen Medizin besteht darin, dass sie einem positivistischen Weltbild folgt, ohne es zu merken. Dieses Weltbild gilt es grundlegend zu hinterfragen und im gleichen Zuge die Fragen herauszuarbeiten, die über das rein Messbare und Verobjektivierbare hinausgehen.

Mir geht es nicht um die Kritik des wissenschaftlichen Zugangs, im Gegenteil. Aber der naturwissenschaftliche Zugang reicht nicht aus, er ist zu einseitig und zugleich Ausdruck eines reduktionistischen Denkens. Indem ich das scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen habe, hat mein Fach in gewisser Weise etwas Subversives. Wenn man nicht von Grund auf hinterfragen möchte, kann man keine gute Ethik betreiben.

Ich möchte die ethischen Fragen auf das Grundlegende zurückführen. Ich möchte ihnen auf den Grund gehen und nicht allein auf die Oberflächenphänomene reagieren. Aus dem Ergründen existentieller Grundfragen erwächst die Chance, Orientierung zu schaffen. Die Naturwissenschaften haben sehr viel instrumentelles Verfügungswissen bereitgestellt. Sie können uns sagen, wie vorzugehen ist, um etwas Bestimmtes zu verändern. Aber dieses Wissen erweist sich als blind, wenn man nicht die Frage zu stellen vermag, woraufhin man Änderungen vornehmen soll. Das ist eine Grundaufgabe der Ethik, dass sie zu fragen hat: Was soll ich überhaupt wollen? Und diese Frage kann nicht über das Labor beantwortet werden, sondern nur unter Berücksichtigung des Ganzen und in Ansehung der konkreten Lebenswelt, die nunmal eine andere Welt ist als die Laborwelt.

Auf welche Werte berufen Sie sich?

Mir geht es darum, aufzuzeigen, dass das Denken ein nie abgeschlossener Prozess ist. Insofern sind wir alle immer nur auf der Suche. Deswegen brauche ich als Philosoph den Wert der grundlegenden Offenheit. Aufgeschlossen sein für alle Perspektiven. Ich werde sie nie alle für mich parat haben können, aber das muss zumindest mein Leitgedanke sein. Und die Offenheit paart sich mit der Demut. Es geht darum, die grundsätzliche Vorläufigkeit allen Wissens und jeder Erkenntnis im Blick zu  behalten. Das gilt für das Laborwissen genauso wie für das lebensweltliche Wissen. Um eine Sache zu verstehen, ist es notwendig, sich der Begrenztheit des Wissens bewusst zu bleiben. Und ein vollkommenes Verstehen eines anderen Menschen ist grundsätzlich nicht möglich. Man muss erstmal in den Schuhen des anderen gelaufen sein, um etwas Grundlegendes von ihm verstanden zu haben. Alles andere ist bloße Vermutung. Mir geht es daher primär um das Verstehen und weniger um eine moralische Gutheißung oder gar Verurteilung.

Diese Urteilsfreiheit und generelle Offenheit wäre auch für den Journalismus zu wünschen.

Da sagen Sie etwas Wahres. Wir führen ein Gespräch. Das Gespräch kann man nicht einfach nach Plan durchziehen. Die Universitätsverwaltung sagte mir einmal: „Wir möchten Sie zu einem Routinegespräch einladen.“ Da habe ich gesagt, für ein Routinegespräch bin ich nicht zu haben. Entweder das Gespräch ist ein Gespräch oder es ist Routine. Wenn das Gespräch Routine sein soll, dann weiß man schon, was rauskommen soll. Aber ein Gespräch muss offen sein. Dann ereignet sich etwas. Dann stößt man im Sprechen durch die Notwendigkeit, dem anderen etwas erklären zu müssen, in neue Gefilde. Insofern ist Sprechen das Zulassen von Kreativität. Das wird nicht genug genutzt. Viele Journalisten haben ein Drehbuch. Damit wird aber das Potential des Journalismus nicht ausgeschöpft. Ich kenne wenige Journalisten, die sich wirklich für das interessieren, was der andere denkt. Sie wollen ein Schlagwort haben, mit dem sich Aufmerksamkeit erregen lässt. Das Gespräch muss von Neugierde getragen sein. Dann eröffnet es etwas Neues und kann dadurch die Welt verändern.

Ich habe mittlerweile den Eindruck, die Schulmedizin betrachtet den Menschen als Maschine. Welche Rolle spielt der Begriff der Seele in Naturwissenschaft und Medizin?

Grundsätzlich haben wir bei Aristoteles in „De anima“ die erste große Schrift über die Seele. Seele ist vom Entstehungskontext des Begriffs damals etwas ganz anderes gewesen als heute. Für Aristoteles war Seele das, was das Lebendige ausmacht. Seitdem ist der Seelenbegriff umgedeutet worden. Heute neigt man dazu, die Seele vom Körper zu unterscheiden. Das halte ich aber für gewagt.

Denn wir müssen fragen: Gibt es das wirklich? Hier die Seele, da der Körper? Was wäre der Körper ohne Seele? Für Aristoteles würde der Körper gar nicht als Körper – oder vielmehr als Leib – existieren können, wenn keine Seele ihn durchströmen würde. Heute verstehen wir die Seele aber als das Psychische. Aber das halte ich für eine reduktionistische Sicht auf die Seele. Ich finde, wir müssen den Menschen immer als Interdependenz von Körper, Geist und Seele verstehen, als Verschränkung verschiedener Sphären, die immer miteinander interagieren und die man nicht voneinander trennen kann. Vielleicht ist Seele sogar ein Hilfswort. Ein Konstrukt, das wir brauchen, um zu begreifen, dass der Mensch nicht nur „Körper“ ist. 

Für mich ist es nicht konsequent zwischen Körper und Seele zu unterscheiden. Das Eine lässt sich nicht ohne das Andere fassen. Wir müssen aufhören, eine stetige Partialisierung des Menschen voranzutreiben. Stattdessen geht es darum, den Menschen als Ganzes zu verstehen und selbst bei der Verobjektivierung der kleinen Teile das Ganze stets im Blick zu behalten. Denn ohne das Ganze sind diese Teile nicht wirklich zu verstehen.

Also hat die zunehmende wissenschaftliche Spezialisierung dazu beigetragen, dass wir uns selbst nicht mehr als Ganzes begreifen?

Das ist das Problem der modernen Medizin. Stattdessen sollten wir von der Grundannahme ausgehen, dass es immer nur Integratives gibt. Wir müssen unbedingt mehr investieren in eine integrative Medizin, die die Zusammenhänge erkennt. Im Grunde haben wir den Fehler gemacht, dass wir mit einer grundpositivistischen Herangehensweise an den Menschen eine Überschärfe im Detail hergestellt und dabei den Blick auf das Ganze vollkommen verloren haben. Ein Arzt muss neben seinem Spezialistentum immer zugleich ein Generalist sein, sonst kann er kein guter Arzt sein. Er muss von einer bestimmten Sache viel verstehen und zugleich das Ganze verstehen wollen. Dahin muss die Medizin zurückkehren. Die Übernahme eines rein mechanistischen Menschenbildes hat dazu geführt, dass wir den Menschen auseinanderdividiert haben, ohne die einzelnen Teile zu einer ganzen Einheit wieder zusammenzuführen.

Ich habe neulich das Zitat aufgeschnappt: „Ein Mensch ist eine Seele, die einen Körper bewohnt. Ein Bildungsbürger ist ein Gehirn, das beim Denken seinen Körper ignoriert und seine Seele verleugnet.“ Was denken Sie darüber, das Gehirn als Schaltzentrale des Menschen?

Das ist ein sehr einseitiges Denken. Ich bin erstaunt, wie viele Menschen sich von der Vorstellung des Gehirns als Zentralorgan angesprochen fühlen. Ich finde das nicht sehr überzeugend. Was wir heute erleben, ist ein unreflektierter Zerebrozentrismus, wie Thomas Fuchs es ausgedrückt hat. Eine Fokussierung auf das Gehirn eine Überbewertung dessen. Wir gehen in einem mechanistischen Sinn automatisch davon aus, dass es da eine Schaltzentrale geben müsse, die alles steuert und der alles andere folgt. Aber ist das nicht eine falsche Grundannahme? Ist der Mensch tatsächlich – also sein ganzer Körper – Resultat der Steuerungsvorgänge eines einzelnen „zentralen“ Organs, das wir Gehirn nennen? Es geht mir nicht darum, die Bedeutsamkeit des Gehirns kleinzureden. Unser Gespräch ist auch ein Ausdruck der Lebendigkeit unserer Gehirne – aber nicht nur!

Was könnte ich denn jetzt überhaupt sagen, wenn ich nicht irgendwo bereits irgendetwas gefühlt, gelebt, erfahren hätte? Und wie erfahre ich denn? Nicht durch mein Gehirn. Durch alle Sinne. Auch Kontaktsinn, Berührungssinn. Ich erfahre durch eine ganzheitliche Wahrnehmung der Welt. Der Mensch taucht in die Welt ein. Im Grunde ist das Leben ein Eintauchphänomen. Wir nehmen immer immersiv auf und bewegen uns ständig in einem Fluidum der Welt. Der Mensch kann sich nicht aussuchen: Ich will das jetzt erfahren. Er ist ein pathisches Wesen, das sich eben von der Welt als ganzer Mensch affizieren lässt, unweigerlich und ständig. Er lässt sich ständig beeindrucken, durch all seine Sinne. Der Mensch ist eben ein seismographisches Wesen, das sich immer in eine Gesamtatmosphäre eingetaucht weiß. Und dann sagt jemand: Das findet alles im Gehirn statt. Der Mensch ist nicht sein Gehirn. Das Gehirn verarbeitet Vieles, was der ganze Leib aufnimmt. Der Mensch ist Leib und nicht Gehirn allein. Und wenn das Gehirn nicht mehr funktioniert, kann sein Leib noch erhalten bleiben.

Vom Kopf zum Fundament des Körpers: Seit einigen Jahren gibt es die Barfuß-Bewegung. Handelsübliche Schuhe bieten nicht genug Platz, um die Zehen aufzufächern, und dadurch wird das Fundament unseres gesamten Körpers deformiert. Also sind nicht nur unsere Denkgebäude zu eng gefasst, sondern sogar unsere Kleidung ist es. 

Im Grunde beschreiben Sie eine Umdeutung der Definitionshoheit. Die Füße, die die Welt wahrnehmen, werden in ihrer Bedeutsamkeit, eine Berührung zur Welt herzustellen und zu erkennen, was die Welt ist, zurückgefahren und abgewertet – zugunsten eines technisierten Blicks auf die Welt. Den sehen wir überall in der Medizin. Bevor ich Philosoph wurde, war ich Internist. Das hat mich begeistert, weil der Internist zunächst nichts anderes anwendet als seine Sinne, um herauszufinden, was der Patient hat. Mich hat immer fasziniert, dass ich alleine durch genaues Hinhören, genaues Hinschauen und Untersuchen in den allermeisten Fällen wusste, was mein Patient hat. Das Labor und der Ultraschall galten mir vor allem als Vergewisserung eines Eindrucks, den ich mir mit meinen eigenen Sinnen schon gemacht hatte.

Dieser direkte Zugang zum Patienten wurde und wird weiterhin abgewertet. Heute werden Menschen kaum mehr untersucht, Gespräche werden sowieso als unnötig und nicht objektiv abgewertet. Die eigene körperliche Untersuchung wird ersetzt durch den Ganzkörperscan, weil man glaubt, die Bilder seien die objektiveren Befunde als die aus der direkten Wahrnehmung. Stattdessen sollten wir wieder zurückgehen zum Eigentlichen, zu den eigenen Sinnen, zur Untersuchung mit der eigenen Hand zum Beispiel. Die Hand selbst erkennt mehr als je eine Maschine erkennen kann, weil sie so viele Sinnesmodalitäten gleichzeitig erfassen kann. Trockenheit, Feuchtigkeit, Tonus, Härte, Weichheit, Temperatur, alles. Die Hand erkennt nicht nur, sie fühlt auch. Sie erkennt und spricht, sie erfährt und kommuniziert. Das ist das Faszinierende an der Hand, dass sie durch die Untersuchung zugleich sprechen kann.

Was die Medizin durch ihre Technikorientierung und ihr Selbstverständnis als angewandte Naturwissenschaft mit Affinität zur Technik getan hat, ist im Grunde, den Menschen  loszulösen von seiner eigenen Wahrnehmung von sich selbst. Im Grunde hat die Medizin den Menschen dazu verleitet, sich selbst fremd zu werden. Resultat dessen ist der Mensch, der mit sich nicht mehr umgehen kann, weil er glaubt, sein Sensorium für sich selbst wäre unwissenschaftlich. Stattdessen glaubt er, er brauche Messgeräte für seinen Körper. Natürlich brauchen wir Messgeräte und einen Experten, der uns sagt, was wir überhaupt haben, aber der Körper bleibt doch mein Körper, und der Patient bleibt Experte seines Körpers, Experte seiner Krankheit.

Dann wären wir nämlich bei der Verschränkung von Geist, Seele und Körper. Wie kann ich gesund werden, wenn ich gar nicht an mich selbst glaube? Wie kann ich gesund werden, wenn ich die Definitionshoheit über mich einem anderen überlasse und mich quasi ausliefere und passiv alles über mich ergehen lasse? Wie kann ich gesund werden, wenn ich nicht daran glaube, dass ich etwas in mir habe, das mich gesund erhält – auch wenn ich eine Krankheit habe? Natürlich gibt es kranke Anteile in mir, wenn ich Krebs habe. Aber ich bin nicht nur Krebs. Ich habe so Vieles in mir, das auch dann noch vollkommen gesund ist. Und das muss ich fördern. Und dann kann ich den Krebs besser bewältigen. Nicht dadurch, dass ich durch eine positive Einstellung zu mir automatisch geheilt werde – das ist zu billig. Aber ich erfahre eine neue Einstellung zur Krankheit, wenn ich mich nicht restlos ausgeliefert fühle, sondern meine eigene Freiheit in mir selbst entdecke.

Was halten Sie von unserem gesellschaftlichen und politischen Umgang mit dem Corona-Virus?

Corona zeigt uns auf, dass wir bisher viele Fehler gemacht haben. Es zeigt auf, dass die Medizin eine unverzichtbare soziale Praxis ist, in die ein vernünftiger Staat zu investieren hat. Diese gemeinwohlorientierte Aufgabe ist unersetzbar. Sie kann nicht ersetzt werden durch eine profitorientierte Herangehensweise. Das ist ein Fehler. Ich kann nicht die Frage, wie gehe ich mit Menschen um, denen es nicht gut geht, dem Markt überlassen. Der Markt hat dazu geführt, dass alles ausgedünnt wird, nur noch das bereitgehalten wird, mit dem man schnell Profite machen kann. Dadurch hat man das Gesundheitssystem krank gemacht und jetzt rächt sich das. Seit 20 Jahren bekümmert mich dieser Zustand.

Haben Sie mit ihrer Arbeit politische Entwicklungen angestoßen und welche Resonanzen bekommen Sie?

Ich möchte meine Arbeit so gut wie nur möglich machen, und das kann ich nur, wenn ich versuche, der Sache treu zu bleiben. Der Sache treu bleiben bedeutet für mich, dass ich in meinem Denken nicht danach Ausschau zu halten habe, ob das Denken einen direkten Einfluss hat oder nicht. Es geht mir nur um die Klarheit des Denkens, und man darf sich nicht beirren lassen, weil es für mich kein vergebliches Denken gibt. Wenn wir meinen, nur das Denken ist gut, das sich sofort in Veränderungen umsetzen lässt, dann denken wir nur halb und eben nicht einschneidend genug. Wenn ich schreibe, tue ich das nicht primär dazu, um dadurch etwas zu verändern. Ich schreibe und denke nicht auf Veränderung hin, sondern weil ich überzeugt bin, dass es Sinn macht, das gesagt zu haben. Selbst wenn sich nicht unmittelbar etwas verändert. Die Fokussierung auf eine unmittelbare sichtbare bezifferbare Folge des Denkens ist schon eine Einengung des Denkens. Ich möchte frei denken. Ich kann mich nur dann frei fühlen, wenn ich durch mein Denken nichts verändern muss. Ich möchte nur, dass mein Denken so klar wie nur möglich ist. Ich möchte im Gespräch mit der Welt immer weiter und somit immer neu denken können. Deswegen spreche ich mit Ihnen.

Fantasiespiel: Sie sind König Ihres eigenen Landes und können sich ein Gesundheitswesen basteln:

Das muss ein Gesundheitswesen sein, in dem die darin arbeitenden Menschen in ihrer Grundintuition bestärkt werden, dass es Sinn macht, sich um hilfsbedürftige Menschen zu kümmern. Die Heilberufe müssen darin bestärkt werden, dass die einzige Bewertung dessen, was da getan wird, die Frage sein muss, ob sie dem kranken Menschen gerecht wird und ob der kranke Mensch sich in diesem System verstanden und aufgehoben fühlt. Wenn wir eine gute Medizin haben wollen, müssen wir unbedingt die Erweiterung der technischen Möglichkeiten mit einer Kultur der Zwischenmenschlichkeit verbinden. Denn eine gute Medizin kann sich nur verwirklichen in diesem Zusammenspiel von einem versierten Können und einer verstehenden Zuwendung. Wenn wir diesen zwischenmenschlichen Charakter von Medizin nicht ausreichend in den Blick nehmen, haben wir eine entmenschlichte Medizin, die vielleicht gut reparieren kann, aber in dieser Reparatur den Menschen mit seinen Problemen, die durch Krankheit und Behinderung aufgeworfen werden, alleine lässt.

Insofern würde ich mir ein Gesundheitswesen wünschen, in dem ausreichend Zeit vorgehalten wird, damit echte Begegnungen von Menschen stattfinden können. Nur so können gemeinsam Wege gefunden werden, die nachhaltig und effektiv aus der Krise des Krankseins führen. Dafür muss man Freiräume kriegen, sich wirklich zu kümmern. Das ist das, was Patienten sich erhoffen: Dass da jemand ist, dem es ein Anliegen ist, mich zu verstehen und zu helfen.

Und ich nehme an, es gibt einem auch selbst eine große Befriedigung, sich um andere zu kümmern?

Das ist ja die Tragik. Ich erlebe im Hörsaal die jungen Medizinstudierenden. Diese neue Generation, die mich fasziniert. All diese jungen Menschen haben eine prosoziale Grundeinstellung, sie haben Medizin gewählt, weil sie sich um andere Menschen kümmern wollen. Sie wollten keine Ingenieure werden, auch keine Betriebswirtschaftler. Medizin machen sie, weil sie für den Menschen da sein wollen. Sie sind prosozial eingestellt. Das ist faszinierend.

Aber dann kommen sie durch das Studium und müssen nur Dinge auswendig pauken. Von Zuwendung und Zwischenmenschlichkeit und Gesprächen und Zuhören redet keiner. Das ist eine eklatante Fehlentwicklung. Und in ihren späteren Berufen fragt erst recht keiner danach. Da müssen sie im Grunde eine Durchschleusungsmedizin betreiben, lernen, wie man fabrikartig arbeitet. Das ist eine Vergeudung der wertvollen Ressource der prosozialen Einstellung dieser jungen Menschen. Wir demotivieren sie, statt das, was schon in ihnen ist, einfach nur aufzugreifen und zu bestärken. Wir müssen ihnen doch gar nicht neu sagen, dass das Helfen der eigentliche Wert der Medizin ist. Das wissen sie! Wir hindern sie nur daran. Und wir impfen ihnen eine Denkweise ein, die aus dem Prosozialen nur einen Störfaktor macht in einem auf Stromlinienförmigkeit ausgerichteten System.

Deswegen müssen wir zum Eigentlichen zurückkehren. Medizin ist eine zwischenmenschliche Praxis, in der man Evidenz mit Beziehung zusammenbringen muss, in der man Sachlichkeit mit Zwischenmenschlichkeit verbinden muss. Wir brauchen Experten für die molekularen Vorgänge im Körper und zugleich Menschen, die durch diese Vorgänge hindurch immer den ganzen Menschen im Blick behalten wollen. Medizin ist nur dann Medizin, wenn sie den ganzen Menschen behandelt.

Bildquelle: Silke Wernet

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2 Gedanken zu “Gesundheit vom Fließband – mit Medizinethiker und Philosoph Giovanni Maio”

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